Artur Becker

Link. Ende und Anfang einer Utopie

Ein Essay

(Auszug) © Westen Verlag, Frankfurt am Main 2022

Aus dem Vorwort

»Die wirkliche Genesis ist nicht am Anfang,
sondern am Ende, und sie beginnt
erst anzufangen, wenn Gesellschaft
und Dasein radikal werden,
das heißt sich an der Wurzel fassen.«
Ernst Bloch in »Das Prinzip Hoffnung« (1954)

Ein Buch mit dem so einfach anmutenden Titel Links zu schreiben, hat selbst nicht wenig von einem utopischen Vorhaben. Der Begriff ›links‹ gehört schließlich nicht nur zu den am stärksten umkämpften, sondern vor allem zu den unschärfsten Begriffen unserer Gegenwart. ›Links‹, das kann heute gleich alles oder auch nichts bedeuten. Die einen kaprizieren den Begriff auf eine parteipolitische Linie und verbinden ›links‹ mit der Partei Die Linke, jener Partei, die bei der letzten Bundestagswahl knapp an der Fünf-Prozent-Hürde gescheitert ist und nicht erst seitdem auf der Suche nach ihrer Identität ist. Diese Suche ist dabei durchaus repräsentativ für die Unschärfe des Begriffs ›links‹ insgesamt. Für andere meint ›links‹ nämlich viel mehr, und zwar eine grundlegende Lebensform, die sich auf Kernthemen besinnt, die historisch gemeinhin als ›links‹ gelten: den Kampf für die Nichtprivilegierten, die Unterdrückten und gegen den Kapitalismus als System, das Unterschiede und Wettkampf geradezu heraufbeschwört und letztlich nur ein Ziel verfolgt – möglichst viel Kapital anzuhäufen. Dass nicht wenige dieser Kernthemen als populistische Parolen von der internationalen Rechten gekapert werden konnten, ist nur ein weiterer Beleg für die Krise des Begriffs ›links‹.
Ganz im Gegensatz zu diesem Wunsch nach historischer Rückbesinnung versteht eine Gegenbewegung »links« gerade als einen mit neuen Identifikationsmöglichkeiten zu füllenden Begriff, etwa mit der sogenannten ›Wokeness‹, die den Kampf für je einzelne, benachteiligte Gruppen meint, dabei aber, so eine gewichtige Kritik, das gesellschaftliche Allgemeine, ja, die soziale Frage aus dem Blick zu verlieren droht. ›Links‹ scheint aber nicht selten auch das Synonym zu sein für die Haltung einer Haltungslosigkeit, einem bloß noch privilegierten, pseudo-linken Öko-Lifestyle: ›Links‹, das kann heute auch bedeuten, im Elektro-SUV zum Biobäcker zu fahren, um einen Dinkelbrocken für 10 Euro zu kaufen. Ein Konsens- Kommunismus, bei dem sich moralischer Gemeinsinn oft darauf beschränkt, die Weltanschauung der eigenen Blase zu spiegeln. In einer Gegenwart, in der auf Kinderarbeit setzende Billigmodeketten Che-Guevara-Shirts verkaufen, ist eine Antwort auf die Frage danach, was ›links‹ eigentlich bedeutet, bedeutet hat und vor allem bedeuten kann, wichtiger denn je.
In diesem Sinne scheint es mir absolut drängend, die Bedeutung von ›links‹ neu zu denken, zu definieren, zu positionieren. Denn ›links‹, das meint weder bloße Parteizugehörigkeit noch einzig den Lifestyle der Bionaden-Bourgeoisie. Ich möchte auf den folgenden Seiten versuchen, die Frage danach, was »links« eigentlich bedeuten kann, noch einmal grundlegend zu stellen, ich möchte sie, im Sinne Blochs, »an der Wurzel fassen«. Gegen die vorschnelle begriffliche Einengung auf eine bestimmte Bedeutungsdimension einerseits und der begrifflichen Entleerung aufgrund einer Vielzahl unscharfer Bedeutungsansprüche andererseits muss eine Definition von ›links‹ vielmehr einer definitorischen Offenheit ins Auge sehen, die gleichwohl nicht die Geschichte ihres Begriffs verleugnet. Wenn die linken Kräfte unserer Gesellschaft wieder zu einer wirklichen Kraft finden wollen, die Ideelles und Reales miteinander vereint, dann muss sie ihre Wurzeln wiederfinden. Sie muss die Utopie wiederentdecken – und zwar nicht als einen nie zu erreichenden Wunschtraum, sondern im Sinne eines dialektischen Kampfes um eine neue, eine gerechtere Welt. Die Utopie denken, das heißt, mit den eingangs zitierten Worten Blochs, einen neuen Anfang von einem imaginierten Ende her zu denken. (…)

 

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