Hessisch-Niedersächsische Allgemeine, 13.08.2019

Fragen von Schuld und Täterschaft
Artur Becker las aus „Drang nach Osten“

Von Susanna Weber

Kassel – Eine Recherche führt den Historiker Arthur nach Kalifornien zu seinem Onkel Stanislaw. Dieser, im Sterben liegend und eingefleischter Kommunist, vertraut seinem Neffen an, dass er antikommunistische Partisanen im Polen der
Nachkriegszeit gefoltert hat, darunter Arturs Großvater. Dieses Eingeständnis führt zu weiteren grausigen Verstrickungen, die in einem zweiten großen
Erzählstrang in Artur Beckers neuem Roman „Drang nach Osten“ entfaltet werden.

Der Historiker und Autor Artur Becker mit polnischen Wurzeln widmet sich in seinem
Roman den Fragen nach Schuld, Täter- und Opferschaft. Gibt es überhaupt eine klar zu definierende Grenze zwischen Tätern und Opfern? Der immer wieder kenntnisreiche Moderator der Literaturmatinee am Sonntag, Martin Maria Schwarz, brachte es im Bali-Kino auf den Punkt: „Es ist ein Knäuel, und es ist schwierig zu entwirren“.

Da ist Irmgard, im Nachkriegs-Polen 1945-46 gestrandet, die Verwandten sind verschleppt. Ihr Deutsch-Sein muss sie leugnen, sie ist verängstigt, leidet unter Albträumen. Jan, der polnische Deserteur, nimmt sich ihrer an. Drängt Irmgard zur Heirat, und möchte sie den (inneren) Dämonen entreißen, die sie quälen: Sie träumt von zwölf Bienenstöcken, in denen abgehackte Menschenköpfe hausen.

Eine Sprache für das Grauen

Es ist eigentümlich faszinierend, wie sehr Becker mit dem Grauen sprachlich zu fesseln vermag. Die gelesenen Szenen stehen im krassen Widerspruch zu seinem distanzierten Vortrag. Empathie für seine Figuren, seine (autobiografisch geprägte) Geschichte spürt man dann im Gespräch mit dem Autor. Sein Roman ist gleichzeitig sein Lebensthema: Die Prägung des deutsch-polnischen Verhältnisses durch die Ambivalenzen des Zweiten Weltkriegs. Deutsche Verbrechen wurden auf polnischem Boden begangen.

Kann mit einer solchen Hypothek Empathie, und daraus resultierend, Versöhnung entstehen? Artur Becker urteilt und verurteilt nicht, und das ist neben der sprachlichen Gewalt eine weitere Stärke seines Romans.

Artur Becker: Drang nach Osten, Verlag weissbooks.w; 396 Seiten, 24 Euro.

 

zurück