Frankfurter Allgemeine Zeitung, 15.01.2020

Zwischen Schwerkraft und Gnade

Von Marta Kijowska

Vor Jahren ist Artur Becker von Polen nach Deutschland emigriert, doch seine Verbindung zur alten Heimat scheint immer stärker zu werden. "Drang nach Osten" ist sein bislang eindrucksvollster Roman.

Wer ein Dichter ist, darf sein Vaterland nicht verlassen", hat Artur Becker in einem seiner früheren Romane geschrieben. Er selbst hat es zwar getan - Mitte der achtziger Jahre ist er aus Polen nach Deutschland emigriert -, aber nur im wörtlichen, physischen Sinne. In emotionaler Hinsicht kann von Verlassen keine Rede sein, im Gegenteil, Beckers Verbindung mit der alten Heimat scheint von Buch zu Buch stärker zu werden. Das gilt sowohl für das ganze Land als auch für Masuren, die Landschaft seiner Jugend, zumal in dem einen seit Jahren eine politische Situation herrscht, durch die alte und neue Gespenster geweckt werden, und in der anderen seit Jahrzehnten Geheimnisse stecken, die nach einer Lösung oder zumindest Beschreibung verlangen.

Von beidem handelt auch Beckers neuester Roman "Drang nach Osten", wobei man schon aufgrund von dessen komplizierter Gliederung ahnt, dass sich hinter diesem Titel, der ohnehin nur ironisch gemeint sein kann, viel mehr verbirgt. Er besteht aus 52 Kapiteln, die zu sieben Teilen gruppiert sind, deren Überschriften, in Anspielung auf Simone Weils entsprechendes Werk, mal "Schwerkraft", mal "Gnade" lauten.

Die französische Philosophin ist nur eine der vielen Intellektuellen, die der Handlung ein gedankliches Korsett liefern, doch zunächst zum Geschehen selbst: Es spielt auf zwei Zeitebenen, in der Gegenwart und kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Im Mittelpunkt des gegenwärtigen Erzählstrangs steht Arthur Bekier, ein Historiker und Schriftsteller mittleren Alters, den mit dem Autor des Romans außer der Namensähnlichkeit und des masurischen Geburtsortes Bartoszyce noch einiges mehr verbindet. Er lebt in der Nähe von Bremen, arbeitet an der dortigen Uni als Dozent und schreibt erfolgreiche Sachbücher über Masuren. Und er steckt gerade in einer Art Lebenskrise. Die dreißig in Deutschland verbrachten Jahre erscheinen ihm plötzlich "völlig bedeutungslos", die Dozentenstelle und die Masuren-Bücher öden ihn an, in der Religion, die ihm schon immer sehr wichtig war, findet er keinen Halt mehr, denn "Jesus lag in Westeuropa im Sterben", und auch Bekiers Privatleben ist alles andere als harmonisch. Mal glaubt er, immer noch seine Exfrau Anna zu lieben, mal kann er sich das Leben ohne seine Geliebte Malwina, eine kluge, attraktive und leider verheiratete Warschauer Professorin, nicht mehr vorstellen.

Bekiers Antriebslosigkeit und innere Zerrissenheit nehmen weiter zu, als er nach dem plötzlichen Tod seiner Schwester nach Polen reist. Hier wird er nicht nur mit der aktuellen Realität konfrontiert, die in Verbindung mit seinen Wunschvorstellungen und Erinnerungen an das kommunistisch-katholische Polen, in dem er aufgewachsen ist, oft befremdend auf ihn wirkt, sondern auch mit einem schwierigen Teil der Geschichte des Landes und seiner eigenen Familie. Der zweite Erzählstrang spielt nämlich in Masuren im Jahr 1945, wo sich die Schicksale mehrerer Figuren überschneiden: des polnisch-masurischen Paares Ryszard und Renata, Arthurs Großeltern, die den Krieg als Zwangsarbeiter in Deutschland verbracht haben, Irmgards, einer im Krieg verwaisten Deutschen, ihres Beschützers, des Landgutverwalters Jan, und nicht zuletzt Arthurs Onkel Stanislaw, eines eifrigen Funktionärs des kommunistischen Regimes. Er ist auch derjenige, der die beiden Erzählstränge zusammenführt, denn als Arthur ihn als alten Mann in Kalifornien besucht, erfährt er, Stanislaw habe damals auch seinen Großvater verfolgt und ins Gefängnis gesteckt, woraufhin er beginnt, die Ereignisse von 1945 zu rekonstruieren. Und mit ihnen das besondere damalige Klima: Deutsche, Polen, Juden und Masuren, Kommunisten und Antikommunisten, untergetauchte Nazis und weiterkämpfende Partisanen - sie alle durchleben auf ihre Art die Traumata des Krieges und die Eigenarten des frühen Stalinismus, diese ganze Atmosphäre von Chaos, Willkür, Gewalt und Angst.

So entsteht ein vielschichtiges Bild Nachkriegspolens, von der Installierung des kommunistischen Regimes über die volksrepublikanischen Jahre bis heute. Eine Menge Erzählstoff also, von dem Artur Becker, wie immer in seiner Prosa, viele Reflexionen und Fragen abzuleiten weiß. Fragen nach den Mechanismen des Bösen, der dünnen Grenze zwischen Täter und Opfer, der Existenz Gottes, der Definition der Schuld, dem richtigen und falschen Gedenken, den mentalen Spuren des Lebens im Kommunismus, dem Umgang mit der Freiheit, der Kunst, die familiären Bande zu pflegen, und nicht zuletzt nach alldem, was sich zu unserer Identität zusammensetzt. Und während er erzählt und über all das sinniert, steht ihm ein geheimnisvoller "Herr mit der Baskenmütze" zur Seite, "eine Art Schutzengel ohne Arbeit", der an verschiedenen Stellen des Romans auftaucht und Monologe über die Unvollkommenheit des Menschen hält.

Manchmal wird die Erzählung etwas zu detailliert, manchmal wirkt die Sprache ein wenig zu geschliffen, und manchmal steht dem Erzähler Becker der Intellektuelle Becker im Weg, der selbst in die einfachsten Überlegungen seines Protagonisten, etwa zum eigenen Alter oder dessen Beziehung mit Malwina, Hinweise auf Adorno, Horkheimer und Bloch packen muss. Und der die Dialoge der beiden Liebenden gern als intellektuelle Duelle gestaltet und selbst dann, wenn es dabei um die älteste Sache der Welt, die Eifersucht der Geliebten auf die Ehefrau, geht, Zitate aus dem Buch Kohelet parat hat. Doch zum Glück macht er das immer wieder durch umgangssprachliche Passagen oder Humor wett, von schönen Naturbeschreibungen, die Czeslaw Miloszs "Tal der Issa" entstammen könnten, ganz zu schweigen. Alles in allem ist Becker mit seinem "Drang nach Osten" nicht nur ein äußerst lesenswerter, sondern gar sein bislang eindrucksvollster Roman gelungen.


Artur Becker: "Drang nach Osten". Roman.
Weissbooks Verlag, Frankfurt am Main 2019. 394 S., geb., 24,- [Euro].

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