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Wie verkauft man die Bibel?

Aus: Frankfurter Rundschau, 16.08.2010

Venedigs Freiheitsliebe

Von Artur Becker

In Venedig bin ich zum Sklaven der Sonne geworden. Ich, ein klassisches Kind des Nordens, bin in diesem steinernen Paradies im Wasser ordentlich unter die Räder geraten: Du wirst in der ockerfarbenen Landschaft aus Stein, in der du so gut wie nie einem Baum oder wenigstens einem Grasbüschel begegnest, von der Sonne gnadenlos bestrahlt, denn jeden Tag aufs Neue trifft dich diese feuchte Hitze, und es dauert lange, bist du es begriffen hast, wie man sich in Venedig anziehen muss: ein T-Shirt unter einem langärmeligen Hemd, beides aus bester Baumwolle. Du musst dir sozusagen deine eigene Klimaanlage einrichten, dein Körper wird sich erst dann langsam umstellen, die Schweißfluten stoppen, und diejenigen, die auf den venezianischen Inseln ein neues Leben beginnen, werden in ihrem ersten Jahr des Öfteren krank, da sich ihr Immunsystem umstellen muss, und manche treibt die hiesige Hitze sogar in den Wahnsinn: Sie verlieren den Mut zum Leben, ihre Gesichter verwandeln sich in eine buntscheckige Maske, in ein übertrieben geschminktes Antlitz eines verrückten Bajazzos.
Am frühen Sommerabend, meist gegen zwanzig Uhr, wechseln die Häuser Venedigs ihre Haut – das Gold der Stadt wird endlich sichtbar, und zwar im Licht der untergehenden Sonne, die zusammen mit dem seladongrünen Meer − dem sommerli-chen Wasser der venezianischen Lagune − für die wunderbaren Lichtspiele und bizarren Färbungen der Fassaden und Dächer sorgt. Für wenige Minuten wird der Himmel tintenblau, ein geheimnisvolles surrealistisches Gemälde, die Fassaden der Palazzi und die Dächer der mehr als neunzig Kirchen leuchten wie Goldbarren, die zu Pyramiden gestapelt in einem Banksafe lagern. Man könnte meinen, irgendwo auf dem Festland habe es eine Explosion gegeben, deren hepatitisgelbe Lichtwelle nun  auch die Inseln erfasst habe, auf denen Venedig in der Lagune schwimmt.
Ich gehe jetzt jeden Abend zu Janusz, um von ihm, meinem polnischen Landsmann, Abschied zu nehmen, da sich mein zweimonatiger Aufenthalt in Venedig langsam dem Ende zuneigt. Jeden Abend verabschiede ich mich von der Stadt, von Janusz und seiner Musik. Janusz Podrazik widmet sie nicht seiner neuen Heimatstadt, er schreibt seine Streichquartette und Klaviersonaten für den geübten Liebhaber der klassischen Musik. Aber er ist genauso wie ich fasziniert von der Freiheit, die ihm sein Inselstaat schenkt, und eben auch von der Schönheit Veneziens. Italien? Das ist das Festland. London, Janusz' zweites Zuhause, befindet sich weit weg. Und Polen? Es sei ein Stück Kindheit und Jugend, und beides könne er in der Inselrepublik der Träumer weiterleben und fortsetzen, er sei durch den Umzug nach Venedig ein Kind geblieben, sagt er. 

 

Republik der Libertins

Unsere Nächte werden lang und heiß, unsere polnischen Nächte in Venedig. Janusz kann nicht schwimmen, Janusz verlässt nur selten sein Musikstudio an einem der touristenfreien Campi in dem Viertel San Croce. Für seine Musik und Liebe lebt er den Kindheitstraum eines polnischen Schlesiers weiter. Er zeigt mir in seinem Viertel die kleinen Brücken, die niemand mehr beachtet, die versteckten Gärten und die byzantinisch  anmutenden Fenster. Er zeigt mir den Fischmarkt nahe der ehrwürdigen Rialto-Brücke, er erzählt mir von den in Stein gemeißelten Gesichtern der Löwen und Chimären – und solange am Fischmarkt vom Rialto der Markuslöwe ein geöffnetes Buch in seinen Vorderpfoten hält, wird Frieden herrschen in dieser Republik der Libertins: der Erwachsenen, die Kinder geblieben sind.
Nicht nur der Strand vom Lido sondern auch die Stadt ruft auch meine Kindheit zurück. Venedig ist im Prinzip eine Kleinstadt, ein Provinznest, in dem die Zeit buchstäblich stehengeblieben ist. Es werden keine neuen Häuser gebaut, keine Wolkenkratzer, Einkaufszentren oder Fabriken. Es gibt hier keine Autos und keine Industrie. Und wohnt man in einer der schattigen Gassen, lernt man schnell auf dem benachbarten Campo seine wichtigsten Leidensgefährten kennen, die man jeden Tag trifft: den Bäcker, den Fleischer, den Zahnarzt, den Cafébesitzer Mario, den Schuster und den Apotheker, als befände man sich in einem der verschlafenen Städtchen meiner masurischen Kindheit, und da in diesem Inselstaat nur noch zirka sechzigtausend Menschen wohnen, ist es selbstverständlich, dass man sich an den steinernen Ufern, auf den Campi und in den schattigen Gassen, in den Cafés und Gaststätten fast jeden zweiten, dritten Tag begegnen kann.

 

Der Traum von Unabhängigkeit

Die Zivilisation des 20. Jahrhunderts ist in Venedig nicht angekommen, während das Festland im Feuer des menschlichen Drangs nach technischem Fortschritt brennt. Man kann es von dieser Insel der Flüchtlinge − der Entrückten und der der linearen Zeit Entflohenen − beobachten, dieses Feuer: Man steht still am steinernen Ufer, blickt in die Ferne, wendet den Kopf zur Küste und zu den Bergen des Festlands hin und freut sich über die Freiheitsliebe der weltmännischen Provinzstadt Venezia, die seit Jahrhunderten einen einzigen Traum träumt: den einer unabhängigen Republik. Denn die unzähligen Palazzi, die einst nur mit einer Gondel erreichbar waren, können nicht schweigen: Aus ihren Mauern ragen von Steinmetzen und Bildhauern geformte Köpfe von Menschen, Fabelwesen und Raubtieren hervor, und sie beginnen zu sprechen, erzählen dir von der Freiheit, von der Unabhängigkeit, die die Inselstadt bis heute für sich beansprucht.
Auf dem Festland herrscht Silvio Berlusconi mit seinem konservativen Gefolge – in Venedig geben die Linken den Ton an. Und während man unter der Kirche Santo Stefano in völliger Dunkelheit, in willkommener Kühle und gesenkten Kopfes mit dem Motorboot im Schritttempo fährt, um den nächsten Kanal zu erreichen − die nächste schwimmende Gasse −, fragt man sich, wo der One-man-Orchester, der die Venezianer und Touristen mit Volksliedern unterhält, wohnen mag. Auf dem Kopf trägt er einen Trichter aus Metall – bemalt in den Nationalfarben Italiens, eine grün-weiß-rote Inszenierung eines Straßenmusikanten. Er hat eine Brottasche dabei – wie die Jäger früher auf dem Lande, wo Bernardo Bertoluccis Filmepos »1900« spielt. Sein Jackett ist von Motten zerfressen, seine Hose hat Löcher, und selbst im Winter kann er nicht auf seine Sandalen und Wollsocken verzichten. Auf dem Rücken hat er eine riesige Marschbasstrommel aufgeschultert. Vor der Brust hält er ein Akkordeon und spielt seine Volkslieder,  Schlager und Travestien, der letzte Spaßvogel Venedigs, ein verlorener und trauriger Bajazzo, der sich und seine zufälligen Zuhörer zu Tode amüsiert.
Der Bühnenbildner Ezio Toffolutti hat ihn auf einer Leinwand porträtiert, das Bild hängt in seinem Atelier Cinema Toffolutti auf Giudecca, der Insel, von der aus man am besten Venedigs wichtigstes Gesicht, das von San Marco, bestaunen kann. Und ich frage Ezio, ob er denn keinerlei Ähnlichkeit zwischen Berlusconi und dem One-man-Orchester zu sehen vermag? Das intellektuelle Italien leidet nämlich – seine besten Söhne und Töchter klagen über die Indoktrinierung durch Berlusconis Parteisoldaten. Viele dieser kritischen Bürger haben Angst, weil man sie zum Schweigen bringen will: durch die Kürzung der Fördermittel für Kultur, durch die Verbannung  der Systemkritiker aus den Printmedien, durch die Verbreitung von immer absurderen und gigantomanischeren Quiz- und Showsendungen im Fernsehen.
Aber in Venedig kannst du dich verstecken, du schaust dir bloß von Zeit zu Zeit den One-man-Orchester und seine Bajazzoshow in den Nationalfarben Italiens an, und danach verschwindest du sofort in den engen Gassen der Mietskasernen und Palazzi, und du fragst dich, wer sich hinter ihren Mauern vor der Welt, dem Festland, verstecken mag. Etwa der Jungschriftsteller Roberto Saviano, der von der Mafia gesucht wird, weil er die schmutzigen und blutigen Machenschaften der Mafiosi in seinen Büchern beschreibt und beim Namen nennt?
Schon viele Dichter sind vor der politischen Verfolgung in ihrem Land hierher geflohen. Ich habe einen kennen gelernt, den die Bundesregierung nicht mehr riechen konnte – er heißt Gaston Salvatore und lebt nun seit mehr als zwanzig Jahren in Venezia. Der Dramatiker Salvatore ist sich seiner linken Haltung und Weltanschauung treugeblieben. Er tut sich mit dem Atmen schwer, und wenn er schlecht gelaunt ist, sitzt er in seiner Wohnung auf dem Dorsoduro-Zipfel, der den Giudecca Canal mit dem Grande verbindet, herum und kämpft mit hasserfüllten Tiraden gegen das Vergessen,  gegen die Ignoranz der Welt und gegen die Naivität der jungen Menschen. Was ihm geblieben ist, nennt man für gewöhnlich die glorreiche Vergangenheit: Er zelebriert seine Erinnerung an die Freunde der 68er Bewegung mit Rudi Dutschke an deren Spitze in Berlin und Frankfurt, er hält Lobeshymnen auf seine Lieblingsdichter und zeigt keine Erbarmung gegenüber Feinden, die seiner Meinung nach der Dichtung keine guten Dienste geleistet hätten. Er ist der Neffe des chilenischen Präsidenten und Sozialisten Salvador Allende, dem Augusto Pinochet mit seinem Militärputsch den Garaus gemacht hat,  und hat über einen anderen Diktator ein Stück geschrieben, das Ende der Achtziger berühmt wurde: »Stalin«.
Ich bin auch ein Venezianer geworden, ich war schon einer vor meiner Ankunft in Venezia gewesen, ich habe es bloß nicht gewusst. Meinen Eskapismus konnte ich bis jetzt nur in meinen Büchern ausleben, indem ich mir in Masuren mein eigenes Reich aufgebaut habe, mein Atlantis. Doch das Atlantis gibt es wirklich. Und  du wirst dich der Eitelkeit dieser Stadt schnell ergeben und ihre Schönheit mit der salzigen heißen feuchten Juliluft einatmen, Spaziergang für Spaziergang, Cafésitzung für Cafésitzung. Und es ist beruhigend und beglückend, wenn man jeden Sommermorgen mit dem blauen Himmel über dem Kopf aufwacht und auf den zahlreichen Brücken und Marktplätzen, den Campi, den wunderbaren, in gute Laune versetzenden Klang des Italienischen hört, bevor man sich in ein Café zum Frühstück setzt. Man will leben, man will dann für diesen kleinen Inselstaat leben und seine Freiheit genießen und verteidigen, weil die Freiheit die einzige glaubwürdige Idée fixe Venedigs ist. Wohlhabende Aristokraten, deren Familien seit Jahrhunderten ihr europäisches Familienvermögen horten, schauen aus den Fenstern ihrer Palazzi auf die nur wenige Meter entfernten Nachbarhäuser, die von Habenichtsen bewohnt werden, denn abgesehen von einem üppigen Bankkonto und dem Luxus besitzen sie beide eine einzige Sache gemeinsam: ihr Zuhause in der seladongrünen Lagune.
Diese Stadt ist ein lebendiges intelligentes Wesen, in seinen Adern schwimmt das warme Wasser des Adriatischen Meeres. Seine Augen sind aus weißem Stein und Marmor, seine Lungen atmen in den heißen Julitagen besonders schwer, und in den langen labyrinthartigen schattigen Gassen und in den dunklen Salonräumen der Palazzi wird es erst im Winter richtig kalt. Auf jedem Campo dieser Stadt regiert eine andere Atmosphäre – man findet hier wirklich alles, was das Herz eines Historikers begehrt, vom ersten Ghetto Europas bis zu den Maskeraden- und Volksfesten in den meist nur von waschechten Venezianern bewohnten Vierteln.
Diese Stadt ist das größte schwimmende Restaurant Europas, nicht nur für die Touristen und Venezianer. Die hiesigen verwöhnten Möwen fressen gerne frisch krepierte Tauben, und man kann diese Fressorgien auf der Piazza San Marco gelegentlich beobachten. Nachts, wenn die Ratten aus ihren Nestern unter den Brücken kommen und die öffentlichen Mülltonnen nach Essbarem auskundschaften, kühlen die Steine immer noch nicht ab. Jugendliche sitzen auf den Treppenstufen der Denkmäler und Kirchen und rauchen einen Joint. Es riecht nach Zuckerwatte, Lakritz, Weinessig und dem Meer vom Lido, an dessen unendlich langen Stränden man Sprizz mit Aperol oder Campari trinkt.

 

Gigantisches Spiegelkabinett

Und wie viele Kirchen es hier gibt! Wie viele sakrale Verstecke für die Götter und ihre getreuen Untertanen! Und doch: Venedig, ich staune über deine Apostasie! Deine Bewohner sind  Kosmopoliten und Atheisten, Polyglotten und Libertins. Und da in dieser Stadt die Illusion die stärkste Kraft ist, weil Venedig einem gigantischen Spiegelkabinett ähnelt – dem größten, das jemals von Menschenhand gebaut worden ist −, fragt man sich automatisch, wer wohl in den Tiefen des grünen adriatischen  Wassers wohnen mag: die Lebenden oder die Toten? Oder schwimmen in den Kanälen  unsere Alpträume, die uns nachts bedrohen? Auf dem Festland gibt es Keller, und in ihnen unsere Geheimnisse, unsere Leichen – in Venedig ist das anders. Wenn wir Venezianer, womöglich die freiesten Menschen Europas, uns schlafen legen, ertrinken wir im Canal Grande und treiben bis zum folgenden Morgen in den engen Nebenkanälen, und wenn wir etwas Glück haben, finden wir unter Wasser eine Treppe, die uns wieder zurück ans Tageslicht führt.
Um fünf Uhr morgens ist Venedig ein sterbendes Tier. Die Wasserbusse Vaporetti sind verschwunden, ihre Dieselmotoren furzen im Canal Grande nicht mehr, der normalerweise die lebendigste und aufgrund des regen Bootsverkehrs die verstopfteste Aorta ist. Um fünf Uhr morgens senkt sich der Wasserspiegel – man entdeckt plötzlich Treppenstufen und Terrassen, die am Tage überflutet sind. Vom Meeressalz angefressene Türen hängen in den Scharnieren der Hauseingänge: Türen, die seit Generationen nicht mehr benutzt werden. Die Stille, die zwischen den Mauern in den engen Kanälen herrscht, erschlägt dich, und du möchtest am liebsten einschlafen und dich in deinem Motorboot in diesem an sagenhafte und fantastische Häfen erinnernden Labyrinth ziellos treiben lassen.
Und dann, wenn die Sonne gegen Mittag anfängt, ihre volle Leistungskraft zu entfalten, kommt diese Flut von Menschen aus aller Herren Länder und mischt sich unter die Venezianer. In meinem ganzen Leben habe ich noch nie so viele Verrücktheit und Entfremdung ausdrückende Visagen gesehen wie in Venedig: sowohl von den Ausländern wie auch von den Einheimischen. Und diese vom psychischen Leid entstellten Fratzen irren in der von Brücken und Kanälen zerschnittenen Stadt herum. Es spielt keine Rolle, ob diese Irren wohlhabend, gebildet oder arm sind; sie besitzen  alle bloß nur noch eines: ihr durch Weltschmerz und Verkrüppelung ihrer Seele  erd- und meerabgewandtes Gesicht. Mit den Vorderpfoten stehen sie auf dem Land, mit ihren Hinterläufen auf dem Wasser – wie der Markuslöwe auf dem venezianischen Wappen. Und sie bewohnen ihr eigenes Venedig, wahrscheinlich tief unter Wasser, über dem Grund der Kanäle schwebend.

Die Schönheit sucht sich immer ihre Hässlichkeit, ihre Zwillingsschwester. Und jeder will sie kennen lernen, selbst nach dem letzten Spaziergang im ockerfarbenen Licht der Palazzi und Mietskasernen sucht man im Angesicht der architektonischen Schönheit nach der Hässlichkeit – sie zieht uns an, obwohl wir uns von ihr ganz automatisch abwenden und weglaufen wollen; wir tun es aber nicht, wir drehen uns nach ihr um. Wir wollen sehen, wie die fette Möwe die halbtote Taube auffrisst, mitten auf San Marco.



© Frankfurter Rundschau· 16. Augusti 2010

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