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Wie verkauft man die Bibel?

Zeit der Wirren

Von Artur Becker

Wäre ich bloß kein Zaungast, grinse ich manchmal vor mich hin, sondern ein echter Deutscher oder ein echter Pole, wie sie beide im klischeebeladenen Bilderbuch stehen; und so rede ich mir ein, dass wenn ich die Abenteuer, Sorgen, angenehmen und unangenehmen Seiten der Immigration niemals kennen gelernt hätte, mein alltägliches Leben viel einfacher geworden wäre. Aber dieser Wunsch und diese Überlegungen zu meiner biographischen Identität sind vielleicht gar nicht notwendig: Ich bin ja Pole – wegen der Kindheitserinnerungen, denn der erste Schnee, der alljährlich in Verden oder Bremen, wo ich wohne, auf meine Wangen fällt, ist immer der Schnee meiner Kindheit aus Bartoszyce in Warmia und Masuren, aus Polen also, wo ich gezeugt und geboren wurde. Meine Deutschen pflegen des Öfteren zu sagen, vor allem in Situationen, die sich nicht ändern lassen: anyway. Und ich kann und will ihre englischen Intermezzi nicht akzeptieren – aus sprachlich-ästhetischen Gründen (wie seltsam doch ist die Tatsache, dass wir Zweitmuttersprachler der deutschen Sprache so bedingungslos vertrauen!). Ich bin davon fasziniert, mit welchem Selbstbewusstsein, welcher Respektlosigkeit wir Zweitmuttersprachler von unserer Deutschsprachigkeit erzählen und von ihr Gebrauch machen. Und so kurios das auch klingen mag, meine Herkunft aus Osteuropa steht der Liebe zum deutschen Sprechen und Schreiben nicht im Wege: Ich bin gerne Pole und Osteuropäer, aber hier in der BRD. Das nächste Kuriosum: Meine polnischen Kollegen ärgern sich, wenn ich sage, ich sei Osteuropäer. Sie antworten: »Nein, nein, wir müssen unseren westlichen Nachbarn nicht beweisen, dass wir in der Mitte Europas leben und tatsächlich Europäer sind.« Aber was meine Deutschen an dem Land Polen – und umgekehrt, die Polen an Deutschland – nicht verstehen, verstehe ich sehr gut, bis zum sadomasochistischen Schmerz, den ich manchmal nicht ertragen kann und den ich manchmal genieße.

Es gibt in der Nähe der Stadt Kalisz in Großpolen ein Dorf, das Zamęty heißt. Dort hatte meine Großmutter Natalia Frankowska gelebt, bis 1939, polnisch-litauischer Herkunft. Dort, in Zamęty, bin ich auch einmal als fünfzehnjähriger Junge zu Besuch gewesen, um nach Ziegelsteinen und Pferdehufen zu suchen – mehr war nämlich von ihrem Elternhaus nicht geblieben.

Zamęty ist, nicht nur im etymologischen Sinne, ein faszinierender Ortsname. Er lässt zwei interessante Deutungen zu: Zamęty könnte heißen – jemanden zu Tode quälen oder Zeit der Wirren. Solche Symbolik ist poethologisch reizvoll, aber auch verbindlich für die Geschichte des 20. Jahrhunderts, die polnische und die deutsche. Leider betrachten und erleben beide Nationen ihre gemeinsame Geschichte für sich allein – beide halten sich in zwei autonomen Räumlichkeiten des kollektiven Nationalgedächtnisses auf und identifizieren ihre gemeinsamen, historischen, blutsverwandten Artefakte als ihr Privateigentum. Eine wichtige Gemeinsamkeit ist, dass wir darauf pochen, Opfer unserer Diktaturen gewesen zu sein, der nationalsozialistischen und der stalinistischen. Und das ist verständlich, dass die Deutschen nicht nur Täter gewesen sein wollen, und ich als Zaungast bin in diesem Konglomerat aus Schuld und Sühne ein geduldiger Zeitzeuge geworden. Ich habe im Laufe der Jahre gelernt, meine Distanz zu beiden Mentalitäten und Völkern zu zelebrieren: Ich trage einen silbernen Ring mit dem polnischen Staatswappen, das bekanntlich ein Adler mit einer Königskrone ist; diesen patriotischen Silberring habe ich mir letzten Sommer im masurischen Augustów gekauft, als Grenzgänger der Robert Bosch Stiftung. Manchmal gefällt es mir, ein Adler zu sein und alle Dinge auf Erden aus der Vogelperspektive zu beobachten.

Meine Geburtsstadt Bartoszyce hieß im Ostpreußischen Bartenstein. Die Barten waren neben den Natangern ein berühmter Stamm im Baltenland, bevor 1226 Konrad Mazowiecki die Kreuzritter des Deutschen Ordens zu Hilfe holte, um endlich die christlich-römische Ordnung im Lärchen- und Drei-Tausend-Seenparadies einzuführen. Mit seiner politisch-religiösen Motivation haben sich schon unzählige Historiker zur Genüge beschäftigt. Faktum ist, dass ich am Ende des 20. Jahrhunderts, geboren 1968, immer noch die Wahl hatte zwischen zwei Schwertern: dem Schwert der Ostpreußen und dem der Polen aus Litauen. Unglaublich, was die Kriege und Machtkämpfe und -tändeleien unserer europäischen Geschichte anrichten können. Ich muss mich nicht auf die ominösen Beschlüsse zur geopolitischen Neuordnung Europas von Jalta berufen – es reicht wirklich, dass ich mir Konrad Mazowieckis folgenträchtiger Entscheidung von 1226 bewusst werde, denn ihn kann ich getrost als den Stammvater meiner ostpreußischen Sippe väterlicherseits ansehen. Das ist schön, zumindest für die geopolitische Symbolik meines Geburtsortes, die im Eliotschen Sinne auf jedes poetische Gemüt sehr verführerisch wirkt. Bin ich deshalb, weil ich in mir Zamęty und Bartenstein trage wie ein Banner, für die Idee der Romantik besonders anfällig? Ich als Zaungast sollte doch wissen, wir gefährlich der Messianismus sein kann. Und die Deutschen haben uns Polen und anderen Völkern schon mehrmals eine kalte Dusche verpasst, Gott sei Dank nicht nur im negativen Sinne. Sie haben drei wichtige Protagonisten ihres äußerst produktiven, manchmal beneidenswerten Revoluzzergeistes ins Rennen geschickt: Luther, Schopenhauer und Nietzsche. Wir in Polen waren nicht unbedingt schlechter: Wir haben Gombrowicz erfunden, den Zerstörer der Romantik, und unser östlichstes Judentum tapfer verteidigt: mit den schlafwandlerischen Erzählungen von Bruno Schulz. Außerdem haben wir der Weltliteratur Bolesław Leśmian geschenkt, der leider schwer übersetzbar ist, wie so vieles aus der polnischen Poesie, und es ist jammerschade, dass Czesław Miłosz’ Gedichte und Essays in Deutschland nicht die metaphysische Würdigung finden, die man ihnen im englischsprachigen Raum zukommen lässt.

Mir wurde nach meiner Übersiedlung in die BRD 1985 relativ schnell klar, dass unsere gemeinsame Geschichte sehr der Brüdertragödie von Kain und Abel ähnelt. Meine deutsche Großmutter Erna, geborene Serreck, die in Bartenstein ihre Kindheit verbracht hatte, wurde 1945 von den Rotarmisten geschändet, und sie musste als junges Mädchen unzählige Bartensteiner Typhusleichen zum Scheiterhaufen tragen. Wie hat sie bloß diese Grausamkeiten ausgehalten? Während dieser Zeit wartete meine polnische Großmutter, die Zwangsarbeiterin, in Hannover auf ihren Sohn, den sie seit sechs Jahren nicht mehr gesehen hatte. Während dieser Zeit war mein polnischer Großvater, ein Soldat des Septembers 1939, ein Gefangener der Nazis. Während dieser Zeit war mein galizisch-ostpreußischer Großvater als Wehrmachtssoldat ein Gefangener der Alliierten. Nach all diesen leidvollen Erfahrungen frage ich mich, wenn ich wieder einmal Zweifel habe, wie konnte ich nur ein deutschsprachiger Autor werden? Und diejenigen, die für mich immer wieder neue Schubladen erfinden – sind sie noch bei Trost angesichts unserer gemeinsamen, polnisch-deutschen Tragödie?

Wer bin ich also? Eine Eberesche, die am Ufer des Dadajsees, meines Kindheitssees, wächst? Ein faustgroßer Stein, der am Straßenrand liegt, irgendwo auf dem Wege von Lutry nach Bartoszyce, in meinem Warmia, im Ermland? Oder bin ich ein Passant, der in der Fußgängerzone von Verden, wo ich seit 21 Jahren lebe, ein Geburtstagsgeschenk für seinen Sohn kauft? Ich weiß es nicht, ich weiß nur, dass ich nicht müde bin, denn ich habe eine Sehnsucht: Ich sehne mich nach dem Paradies meiner Kindheit. Und ich verbinde dieses Paradies nicht mit meiner Volksrepublik Polen, der PRL, nicht mit dem Glas Wodka, das jeden Mann zum Schwätzer und Aufschneider macht. Ich verbinde meine Sehnsucht mit der ermländisch-masurischen Natur. Sie ist uns Menschen eine Meisterin. Und ich verbinde meine Sehnsucht mit der Verantwortung im Umgang mit unserer schwierigen polnisch-deutschen Vergangenheit: Ich sehne mich nach dem Verstehen unseres Roulettespiels, zumal ich weiß, dass die Identitätssuche, zu der ich verdammt wurde, mit mir nicht enden wird.

Die jetzige Stimmung, die wir zwischen den beiden Ländern, durch die Oder-Neiße-Grenze tatsächlich getrennt, erleben, ist unerträglich. Das satirische Feuilleton und die Spaßgesellschaft sollten endlich aufhören, nach ihnen verwandten Geistern zu suchen, denn Kassandra und Antigone haben sie sowieso nie verstanden. Des Weiteren: Die in Polen regierenden Gebrüder Kaczyńscy sind keine Kinder der Nomenklatura. Sie sind die ersten, die die Gunst der Stunde eines demokratischen Systems erkannt haben. Aus der Solidarność-Bewegung hervorgegangen, verhalten sie sich endlich wie richtige Profis. Sie machen nichts anderes als die Politiker im Westen. Sie arbeiten mit den Menschenmassen, die sie wählen. Sie dürfen sogar Abgeordnete für ihre Zwecke werben. Und sie behaupten, eine weiße Weste zu tragen. Sie empören sich moralisch und schreiben auf ihre Parteischilder: Wir wollen endlich die Gerechtigkeit walten lassen und die Korruption vernichten. Und das ist sehr gut, denn an eben solch hohen Ansprüchen können wir, die international vernetzten Zweifler und Systemkritiker, sie prüfen – mit ihrer eigenen Messlatte sozusagen, und das wissen sie auch, dass wir sie prüfen. Wir müssen ihre Idee von Zamęty prüfen, die Zeit der Wirren, nicht ihr rechtskonservatives, plakativ rezipierbares Gebaren. Und wir in Deutschland, hier im vermeintlich glücklicheren Westen, sollten unsere gemeinsame Geschichte nicht mehr andauernd politisieren und unseren moralischen Instanzen einen Bonuspunkt geben: Wo bleiben unsere Herzen? Darunter, ein Regionalexpress in Europa zu sein, leiden doch die Polen, weiß Gott, viel zu viel, denn die Deutschen übersehen, wie viel sie dazu wieder einmal selbst beigetragen haben, dass in Polen überhaupt rechtskonservative Kräfte oder gar Nationalisten an Kraft gewonnen haben, weil die Deutschen sich noch nicht richtig, trotz ihrer glorreichen Wiedervereinigung, von dem Riesen Russland gelöst haben, vor allem psychologisch nicht. Und die Polen begreifen nicht, dass sie mit ihrer Angst vor Deutschland und vor allem vor Russland, was auch fatal ist, immer wieder nur neue Angst produzieren und ernten. Das ist eben dieses fatale, weil künstlich erzeugte, Jalta- und Oder-Neiße-Syndrom unserer gemeinsamen Herkunft und Geburt. Und nur mal so nebenbei gesagt: Die Deutschen und die Polen haben sich noch nie richtig verstanden – trotz des berühmten Kniefalls von Warschau, trotz der hierzulande sehr beliebten Bücher von Szczypiorski, trotz der großartigen BRD-Hilfe in der Solidarność-Zeit. Bei aller Sympathie für beide Nationen: Wir kennen einander immer noch viel zu wenig, obwohl wir Geschwister sind.

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