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Wie verkauft man die Bibel?

Die Wolfsschanze

Von Artur Becker

Die Wolfsschanze – so heißt die Bunkeranlage, die Hitler 1940 von der Organisation Todt in Ostpreußen bauen ließ, um die russische Front zu dirigieren. Fürwahr – die Organisation Todt wurde ihrem Namen gerecht. Sie baute für den Zweiten Weltkrieg, und ihre Arbeitersklaven stammten aus den Konzentrationslagern.
Jeden masurischen Sommer organisierte mein Vater, der am Dadajsee das Erholungszentrum Morena leitete, Ausflüge für seine Urlauber, und zwar meist in den Wallfahrtsort Heilige Linde oder zur Wolfsschanze bei Gierloz. Ich überblicke nicht mehr, wie oft ich schon in der Wolfsschanze gewesen bin, in diesem größten Führerhauptquartier. Und kaum einer weiß, dass Hitler zwischen 1941 und 1944 die meiste Zeit dort in den masurischen Wäldern in der Nähe der Stadt Ketrzyn (Rastenburg) verbrachte. Er versteckte sich wie eine Ratte in der Kanalisation.
Was verbirgt sich hinter diesem Namen, den in Deutschland und Polen jedes Kind und jeder Erwachsene kennt? Wie soll man sich eine Bunkeranlage vorstellen, wenn man dort nie gewesen ist?
Vielleicht kennen Sie aus dem Internet oder aus dem Fernsehen Bilder von den Pyramiden und Mauern, die in der Nähe der japanischen Küsten und vor den Ufern der Bimini-Inseln im Meer entdeckt wurden – monumentale Artefakte, die unsere Phantasie herausfordern und die kollektive Erinnerung an globale Naturkatastrophen wachrufen; die Suche nach dem sagenhaften Kontinent Atlantis kann von neuem beginnen (das Rätsel ist nun übrigens wahrscheinlich wirklich gelöst!). Seltsamerweise waren meine Besuche in der Wolfsschanze meistens verregnet. Doch wie kann man sich die Bunkeranlage vorstellen, wenn man dort noch nie gewesen ist? Die Außenmauern der von Rotarmisten gesprengten Bunker der Wolfsschanze sind mit Moos bewachsen, das Laubgrün und die Zweige der Eichen, Pappeln, Erlen und Nadelbäume verdecken den Himmel, und wenn Sie auf den für Touristen angelegten Besichtigungspfaden von Bunker zu Bunker schlendern, spüren Sie die feuchte, kalte Luft, die vom Beton und von den hundertjährigen Laubbäumen kommt. Sie denken, Sie schwimmen unter Wasser, Sie tauchen immer tiefer und fragen sich, wie es die Menschen in diesen dunklen Kellern aus Stahl und Beton aushalten konnten.
Nicht die Russen, sondern die Mücken waren in der Wolfsschanze die Feinde Hitlers und seiner Offiziere. Ein ganz schlauer Offizier des Führers kam auf die Idee, die Mückenplage ein für alle Mal zu beenden. Er ließ in die Brutstätte der masurischen Moskitos, in einen Teich, einige Hektoliter Benzin pumpen und zündete die gelbe Brühe mit einem Streichholz an. Auf der Oberfläche des Teiches brannte stundenlang ein Regenbogenfeuer, das Schilf fing an zu brennen, und in der Luft schwebte der beißende Benzingeruch. Die Mücken blieben aber, sie überlebten diese Apokalypse von Menschenhand. Sie kamen doch von den großen Seen, brüteten auf diesem Teich seit eh und je. Sie liebten das süße Blut des Führers und seiner uniformierten, todernsten Diener und Henker. Hitler war in Ostpreußen zum Wassermann geworden, sein Körper, von Mückenstichen zerstochen, schwoll immer mehr an, und des Nachts, wenn er in seinem Bunker Nr. 13 schlief, dessen Decke zehn Meter dick war, wurde er vom leisen Summen über seinem linken Ohr geweckt. Dieses Summen trieb ihn in den Wahnsinn. Einen Atombombenangriff hätte er in seinem Bunker überleben können; die Zahl 13 ist heilig und weist auf den 13. Apostel hin, auf den Messias und Avatar, und am polnisch-katholischen Bescherungstisch an Weihnachten auf den unerwarteten Gast, deshalb gibt es ein zusätzliches Gedeck. Aber die Mückenstiche konnte sein Bunker nicht abwehren, auch nicht mit geheimen kabbalistischen Formeln und Ritualen.
Wusste er überhaupt, dass er sich in diesen Wäldern auf dem heiligem Territorium der Pruzzen befand? Der Heiden, die die Bäume und Seen angebetet, als wären sie Götter, und die sich von dem Schwert des Deutschen Kreuzritterordens nicht ohne Kampf bekehren hatten lassen? Moorleichen, Ertrunkene und dreimeterlange Welse verkündeten den Einheimischen in ihren Träumen Glück oder Unglück. Hitler, der deutsche Imperator, muss des Öfteren spät in der Nacht oder am frühen Morgen schweißgebadet erwacht sein, zitternd vor Schreck, weil er in seinen Alpträumen Aale erblickte, die Aasfresser, die die Seen sauber halten. Bekanntlich sind Aale große Überlebenskünstler, wie die Schlangen. Man sagt, der Teufel habe diese Kreaturen geschaffen. Die Aale brauchen lediglich eine feuchte Wiese oder feuchtes Moos, um durch den Wald zum nächsten Gewässer zu gelangen. Und manchmal regnet es in Masuren in Strömen, wochenlang, so auch damals, während jenes Septembers, als er, der deutsche Imperator, sich seit dem Sommer in seinem Hauptquartier aufhielt. Einmal, im Bunker stand das Wasser nach heftigen Regenfällen zwei Zentimeter hoch, obwohl die Pumpen pausenlos liefen, mit einem Riesenlärm, schnaufend und keuchend wie Tiere, gelangten nachts zwei, drei Aale in sein Zimmer. Und er konnte nicht mehr zwischen Traum und Wirklichkeit, Hallizunationen und Eingebung unterscheiden. Er war vor langer Zeit ertrunken und hatte es nicht einmal gemerkt. Engelsstimmen glaubte er zu hören. Diktate aus der Hölle.

Ich war jedes Mal, wenn ich die Wolfsschanze besuchte, begeistert. Wie gesagt, ich fragte mich, wie es die Menschen über Monate und gar Jahre in dieser surrealen Unterwasserwelt hatten aushalten können. Im Winter herrschte sibirische Kälte, im Sommer herrschte, wenn es nicht gerade wieder einmal regnete, Saunahitze. Sekretärinnen oder andere Damen, die der Wolfsschanze einen Besuch abstatteten, klebten an den Kälte spendenden Betonwänden, während sie im Stehen von den SS-Offizieren vernascht wurden. Ihre geschminkten Lippen zitterten, ihre Oberschenkel brannten an der kalten Wand. Nein, ich hatte als Kind keine schmutzige Phantasie, obwohl mich der Schöpfer viel sehen liess, in meiner Geburtsstadt an der polnisch-russischen Grenze, wo Hurerei und Brudermord an der Tagesordnung waren. Ich war stets dem Realismus verbunden, denn die Wirklichkeit, der Alltag in der sozialistischen Gesellschaft, bot mir genügend Verrücktes.
Die Herrscher dieser Welt, die kosmische Dramen schreiben und die Regie führen wollen, sind kurzsichtig und machtgierig – menschlich, allzu menschlich, wie die meisten Menschen. Die Wolfsschanze erschien mir damals, als ich sie in den Siebzigern regelmäßig besuchte, ein verruchter Ort. Ein Vorposten der Hölle – ein Symbol der Macht auf Erden. Gebäude sind dafür geeignet, zu repräsentieren, was man ist.
Ich aber malte mir aus, wie der Koch die Schnitzel briet, wie die Sekretärinnen mit den jungen SS-Soldaten kopulierten, wie Benito Mussolini in seinem Gästezimmer in die Kloschüssel pinkelte und dabei einen fliegen ließ. Ich malte mir aus, wie sich Hitler am Nacken kratzte, wo er schon wieder, zum x-ten Mal, von einer Mücke gestochen worden war. Sein weißer Hemdskragen musste voller winziger Blutstropfen sein. Ich war fasziniert davon, dass ein paar Weltverbesserer, die meinten, der Menschheit Gutes zu bringen, auf die Idee gekommen waren, ihr eigenes Gefängnis zu bauen, ihr Rattenloch. Sie hausten wie Abgesandte der Hölle, ließen Tarnnetze über die Dächer ihrer höllischen Gebäude spannen, als würden sie fischen wollen, und versteckten sich unter meterdicken Betonmauern, tief eingegraben in die Erde. Maulwürfe und Welse. Krokodile und Schlangen. Aale. Diese Kanalisationsratten haben eine Landschaft, wie man sie bei uns in Masuren findet, mit Seen, Wäldern, Tälern und Hügeln, nicht verdient, schoss mir oft durch den Kopf. Es wühlte mich auf, wenn ich daran dachte, dass Hitler jahrelang hier gelebt hatte, in der Nähe meines Geburtsortes, meiner heiligen Kindheit, in den Wäldern, in die sich die Pruzzen vor den Schwertern und schwarzen Kreuzen des Marienordens flüchteten. Er hatte auf den Boden gespuckt, aus dem ich später erwachsen war. Ja, er ist ein Henker gewesen, ein rücksichtsloser, selbsternannter, an Vorsehung glaubender Weltenrichter. Er kannte keine Gnade, wie jeder, der einer messianischen Ideologie nachhängt, der glaubt, die Welt vor dem Bösen retten zu müssen.
Das Öl ist das Blut unseren Planeten, das Wasser seine Seele. Das Wasser ist gefährlich, es kennt ebenfalls keine Gnade. Die masurischen Seen holen alle Menschen zu sich, rechtschaffene wie wahnsinnige. Sie unterscheiden nicht zwischen lichten und dunklen Seelen und Charakteren. Für ihre Wasser ist jeder Ertrunkene gleich, er besitzt keine Sonderrechte.

Der Badestrand am westlichen Ufer des Dadajsees, an dem ich als Kind Jahr für Jahr meine Sommerferien verbracht habe, hat schon viele Wasserleichen gesehen: die blauen Körper der Ertrunkenen, blau wie die Ausserirdischen in einer ihrer zahlreichen altindischen Beschreibungen in der heiligen Schrift und Offenbarung Krishnas, der »Bagavatgita«. Mein Vater oder ein Taucher deckten das Opfer mit einer Wolldecke zu, und manchmal nur mit einem Badehandtuch, damit niemand vor Schreck in Ohmacht fiel. Ich habe selbst auch Wasserleichen gesehen. Einige der Ertrunkenen kannte ich selbst, mit einigen hatte ich gesprochen, mit einigen Kindern gespielt, mit Erwachsenen gescherzt. Und viele waren Fremde, junge Soldaten oder besoffene Raufbolde aus benachbarten Dörfern. Ich weiß, dass der Dadajsee böse ist. Dass er sich rächen will, weil er die Dummheit der Menschen nicht ausstehen kann. Er will sie Demut lehren. Demut vor der Ewigkeit.
Hitler nutzte eine große Chance nicht. Anstatt die Wolfschanze zu bauen, um Kriege zu planen und zu führen, hätte er in Masuren Demut lernen sollen. Vielleicht hätte er dann wie die alten Pruzzen Bäume und Seen geliebt und verehrt. Vielleicht hätte es dann nicht all die Grausamkeiten gegeben, die Menschen anderen Menschen angetan haben.
Und zum Schluss eine Abschweifung. Der Name der Organisation Todt. Er ist kein isoliertes Bild von erschreckender Symbolik. Der Tod oder das Totsein war ja in der Naziherrschaft allgegenwärtig. Himmler oder Eichmann oder Auschwitz – all diese Namen kommen aus der Hölle und bringen zum Ausdruck, dass wir es hier mit der übelsten Dunkelheit und dem finstersten Tod zu tun haben. Die symbolische Bedeutung der Namen von Personen, Orten und Organisation im Nationalsozialismus, und ich meine hier vor allem die poetische, die vom Schicksal geschenkte Symbolik und keine okkulte, esoterische Deutung, ist ein Thema, das noch der Untersuchung und Entzifferung harrt.

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