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Der rote Faden - zum 100. Todestag von Anton Cechov

Von Artur Becker

Eins zweiundachtzig groß, hellbraune Haare, braune Augen, spindeldürr. Über Anton Cechov erzählen sich die Literaten alles Mögliche. Das Wenigste ist wahr. Cechovs letzte Worte auf dem Sterbebett in Badenweiler sind nicht: "Ich sterbe", wie viele nach dem vierten Bier behaupten, sondern: "Schon lange habe ich keinen Champagner mehr getrunken." Das Glas reicht ihm sein Arzt Dr. Schwoerer - am 2. Juli 1904, nach dem Julianischen Kalender allerdings, der dreizehn Tage hinterherhinkt. Den Satz "Ich sterbe" spricht der Tuberkulose-Patient aus Russland zwar, das stimmt, aber auf Deutsch und bevor ihm der Champagner gereicht wird. Wir haben zwei glaubwürdige Zeugen dafür: den Arzt und die Schauspielerin Olga Knipper, mit der Cechov verheiratet ist und seine letzten Jahre verbringt. Cechow wird nur vierundvierzig, hinterlässt jedoch ein umfangreiches episches und dramatisches Werk. Niemand, der nicht "Das Duell" kennte, "Die Dame mit dem Hündchen" oder "Drei Schwestern". Die Dekadenz des jungen Liebespaares, des Finanzbeamten Laevskij und seiner Geliebten Nadežda, wird in "Das Duell" zu einer philosophischen Debatte: Bei-de sitzen moralisch gesehen auf einem der niedrigsten Äste, und ihre Selbsterkenntnis, dass sie ein verruchtes und unnützes Leben voller Betrug und Schein führen, hilft ihnen nicht, aus der existentiellen Misere erhobenen Hauptes herauszukommen, obwohl sie einen Neuanfang im Kaukasus wagen. Als der Zoologe und Sozialdarwinist von Koren auf die Bühne tritt, kommt es zu einem Kampf zwischen ihm und dem "jungen Greis" Laevskij. In diesem Duell treffen zwei Welten aufeinander: die des degenerierten Menschen und die des ewigen Weltverbessers. Man möchte nach der Lektüre sagen, das moralische Duell, das uns vor Augen ge-führt wird, dauert noch bis heute an, und die jüngsten Bei-spiele sind die Bücher von Michel Houellebecq.
Manchen Schriftstellerkollegen des 20. Jahrhunderts kommt es leicht über die Lippen: Er war der Größte. Anton Cechov ist ein Glückspilz - trotz seiner schweren Krank-heit, die früh ausbricht und zu seinem Tode führt. Ohne finanzielle Unterstützung durch seine Eltern absolviert er in Moskau ein Medizinstudium. Er arbeitet als Arzt. Allerdings verlangt er selten von seinen meist mittellosen Patien-ten ein Honorar. Er fängt früh an zu publizieren und ist bereits mit Mitte zwanzig ein anerkannter Autor, der im Laufe der Jahre mit dem Schreiben seinen Unterhalt verdienen kann. Nein, er ist kein Millionär, und wie viele Schriftsteller kann er mit Geld nicht umgehen. Nie hat er irgendwelche Rücklagen, aber immer wieder gelingt es ihm, mit seinen Publikationen in Zeitungen und Buchverlagen so viel Geld zu erwirtschaften, dass seine Familie nicht hungern muss und ein Dach überm Kopf hat. Die Einnahmen reichen sogar für ausgedehnte Reisen, auf die Insel Sachalin und durch Europa, und für Landhäuser in Melichovo oder Jalta.
Aufgewachsen ist er in Taganrog, wo er am 17. Januar 1860 zur Welt kommt. In dieser Hafenstadt am Azovschen Meer und abgelegenen russischen Provinz sammelt er Stoff für seine späteren Erzählungen und Theaterstücke. Als Kind wird er von Fuhrknechten auf einen längeren Ausflug in die Steppe mitgenommen. Die Reise prägt sich dem Jungen so ein, dass er sie in der ersten langen Prosaarbeit "Die Steppe" (1888) beschreibt: Über die Fuhrleute heißt es dort: "... alles Männer mit wunderbarer Vergangenheit und äußerst unerfreulicher Gegenwart ..."
Der Vater Pavel Egorovic ist ein Tyrann und Despot, der seine zahlreichen Kinder (Aleksandr, Nikolaj, Anton, Ivan, Marija, Michail und Evgenija, die mit zwei verstirbt) und seine Ehefrau Evgenija Jakovlevna wie Leibeigene behandelt. Er verlangt absoluten Gehorsam, Furcht einflößende Wutausbrüche sind seine Spezialität. Er ist selbst ein Leibeigener gewesen, dessen Eltern es mühsam geschafft haben, sich freizukaufen. Die ersten Erzählungen von Pavels begabtestem Sohn erscheinen unter dem Pseudonym Cechonte, ein Spitzname, der dem Gymnasiasten von einem Oberpriester in Taganrog verliehen wird: "... eigentlich bist du ein Cech, ein Leibeigener ... Du könntest auch Cechonte heißen ..."
Pavel Egorovic besitzt einen Krämerladen. Er hat kein Händchen für Geschäfte. Er singt lieber im Kirchenchor nach der Art der Athos-Mönche oder unterhält sich mit den Würdenträgern der Stadt und Kirche über Malerei und Kunst. Nach dem Bankrott flieht er nach Moskau, wohin ihm die Familie später folgt. Den Traum, bedeutende Fami-lien zu gründen, kann er nicht realisieren.
In Taganrog besucht der Junge Anton regelmäßig das Theater und spielt die Szenen zu Hause nach, zum Amüse-ment seiner Geschwister, die oft mitwirken. Er verkleidet sich gerne: Vermummt als Bettler wird er nicht einmal von seinem Onkel Mitrofan Egorovic erkannt und verdient sich so sein erstes Honorar.
Warum ist er überhaupt Schriftsteller geworden? Als Doktor Cechov, der sich dazu als engagierter Bürger in ver-schiedenen Gremien für Bedürftige, Kinder, Schüler und Bauern einsetzt, hätte er sein Leben glücklich zu Ende bringen können. Die Erleuchtung kommt, als er 1886 zwei Typhus-Patientinnen verliert. Er macht sich Vorwürfe und entfernt das Doktor-A.P.Cechov-Schild von seiner Haustür. Er sagt sich "nie wieder!", praktiziert jedoch weiter, vor allem auf dem Lande, wo die Bauern keinen Rubel in der Tasche haben. Der Arzt konstatiert: "Die Medizin ist meine gesetzliche Ehefrau, die Literatur meine Geliebte."
Die Form der Kurzgeschichte hat es im 19. Jahrhundert nicht leicht. Cechov geht außerdem durch die harte Schule des permanenten Kürzens, wie Hemingway, weil er seine Geschichten in Zeitungen druckt. Die Vorgaben sind streng, und er beklagt sich des Öfteren, er würde gerne etwas Längeres schreiben, seine Devise ist aber: "Die Kunst zu beschreiben besteht in der Kunst zu kürzen." Die heutigen Leser können von Glück sprechen.
Trotz aller Schwierigkeiten mit der Kunst schafft er es, bereits zu seinen Lebzeiten bei zwei großen Verlagen unter-zukommen, geführt von Aleksej S. Suvorin und Adolf F. Marks. Zu seinen Lesern und Freunden gehören immerhin Gorkij und Tolstoj, auch wenn der bekennende Atheist und Menschenfreund Cechov, der sich politisch nicht festlegen kann und will, nicht immer auf ein wohlwollendes Urteil von seinem Meister Lev Tolstoj stößt. Mit Dostoevskij kann er nichts anfangen, und mit dem Kollegen und Theatergenie Stanislavskij, der mit der Inszenierung von "Die Möve" Cechovs Stücken auf der Bühne des Moskauer Künstler-Theaters zum Durchbruch verhilft, gibt es nicht selten hef-tigen Streit.
Ein jeder Leser hat seine Lieblinge unter den Texten von Cechov. Meine Favoriten sind "Der Dicke und der Dünne" und "Der treue Hund". In der ersten Geschichte treffen sich nach vielen Jahren auf einem Bahnhof zwei alte Schulfreunde. Der Dicke hat eine große Karriere gemacht, bis zum Geheimrat!, und er hat zwei Ordenssterne vorzuweisen. Der Dünne schlägt sich mit seiner Familie durch, er ist nur ein kleiner Beamter geworden. Zum Schluss ist der Dünne so erschlagen und verunsichert, dass er seinen er-folgreichen Schulfreund mit: "... Euer Exzellenz ..." anre-det. Auf zwei Seiten wird dem Leser die menschliche Tra-gödie des ewigen Verlierers anschaulich gemacht. Es ist ungeheuerlich schön und lebensnah, wie Cechov den roten Faden in seinen Geschichten spinnt: Das, was vom Erzähler ausgelassen wird, spricht in unserer Phantasie weiter. "Der treue Hund" ist in seiner Komik kaum zu übertreffen. Der Leutnant Dubov und der Freiwillige Knaps sitzen zusammen und trinken. Dubov hat seinen Hund Milka dabei und will ihn Knaps verkaufen. Er lobt ihn in den Himmel: "... ein reinrassiger englischer Setter ..." Bestens erzogen. Knaps lässt sich aber nicht einreden, Milka sei ein Rüde. Außerdem hat er kein Geld. Als der Verkauf nicht zustande kommt, wechselt Dubov plötzlich seine Meinung und sagt: "... ein scheußlicher Hund ... Ein widerlicher Köter ..." Er will ihn zum Teufel jagen und beschimpft ihn sogar, er sei "... eine Kreuzung zwischen einem Hofhund und einem Schwein ..." Das ist Cechov pur. Destillierte Pointen und bedingungslose Menschenliebe, die aus dem Alltag Religion zum Überleben schöpft.

Die größte nichtrussische Cechov-Edition erscheint in diesem Jahr bei Diogenes - betreut und übersetzt von Peter Urban. Zur weiteren Lektüre empfohlen: "Anton Cechov" von Frank Rainer-Scheck, dtv portrait 2004.

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