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Wie verkauft man die Bibel?

ZUM THEMA FLÜSSE

Wo der Fluss beginnt –
im Kindheitsroman
von Czeslaw Milosz

Von Artur Becker

Die Symbolik des Flusses. Milosz' Kindheitsroman ist ein sehr geheimnisvolles Buch, über das Lilian Vallee zum Schluss ihrer gelungenen und klugen Interpretation schreibt:

Nach der Lektüre von Tal der Issa hat man den Eindruck, dass selbst dann, wenn Milosz keine Poesie schriebe, man ihn aufgrund dieses einen Romans für einen großen Dichter halten könnte. Die Schönheit dieses Buches und dieser Vision, aus der es erwachsen ist, könnten untereinander widersprüchlich sein, sie sind es aber nicht, und dies geschieht vielleicht deswegen so, weil Milosz der Natur als Notwendigkeit und der Natur als Verheißung völlige Freiheit ges-tattet, der zweiten jedoch das ganze Gewicht seiner Poesie in ihre Waagschale wirft.

Auf den ersten Blick scheint es so, als wäre "Tal der Is-sa" ein autobiographischer Roman, und viele identifizieren den Jungen Tomasz Dilbin mit Milosz, der Renata Gór-czynska erzählt:

Ja, viele denken, dass es Kindheitserinnerungen sind. Natürlich, gibt es da viele Elemente aus dem wirklichen Leben, wie sie behaupten. Aber die Handlung des Romans ist etwas ganz anderes. Sie hat ihre symbolische Struktur. Die Pro-tagonisten und die Handlung sind zwei verschiedene Dinge.

Das Tal der Issa ist in Wirklichkeit das Tal des Flusses Niewiaz (poln.) in dem Landkreis Kiejdany (poln. Powiat Kiejdanski), wo also Czeslaw Milosz aufgewachsen ist. Der poetische Titel des Romans ist ein fiktiver Name. Issa wählte der Autor deswegen, weil das Wort in vielen Teilen der Erde als Orts- oder Flussname anzutreffen ist. Lilian Vallee deutet den Titel des Romans folgendermaßen:

In "Tal der Issa" ist Issa natürlich die Namensschwester der Isis, der man laut der ägyptischen Mythologie zusammen mit dem Sonnengott Ra (oder Re, Anm. d. A.) den Sieg der Unschuld und des Guten über das Böse und die Arg-list, über den ägyptischen Gott Seth zuschreiben muss.

Das Tal des Flusses Niewiaz wird als das Herz Litauens bezeichnet. Der Fluss und seine Symbolik, nämlich He-rakleitos' panta rhei, haben bei Milosz verschiedene Be-deutungen. Niewiaz bedeutet hier zum einen die Heimat, den "Geburtsort" ("Miejsce urodzenia"), so heißt ein Kapi-tel in "West- und östliches Gelände", zum anderen hat der Fluss für Milosz eine universelle und kosmologische Be-deutung. Diese Interpretation des Flusses schließt ein den Mikrokosmos, das eigene Schicksal bzw. den Geburtsort, und den Makrokosmos, das gesamte Schicksal der Menschheit und der Welt. In "Gdzie wschodzi slonce i ke-dy zapada" ("Vom Aufgang der Sonne bis zu ihrem Nie-dergang") schreibt der Dichter über das makrokosmische Motiv:

Und wenn sie sagen werden, dass ich nur das Rauschen
des heraklitischen Flusses gehört habe
Dann reicht das auch, denn ich habe mich beim Zuhören
sehr abgemüht.

Der Konflikt zwischen dem Individuum und dem Uni-versum ist auch bei Milosz ein grundlegendes philosophi-sches Thema. Im Gedicht "In Szetejnie" aus "Am Ufer des Flusses" greift der Dichter die Thematik des eigenen Ur-sprungs noch einmal auf, wobei der Fluss Niewiaz hier nicht namentlich erwähnt wird. Der Fluss ist aber auf pol-nisch großgeschrieben, und man hat den Eindruck, wenn man das Gedicht liest, als ob in diesem einen Mutterfluss alle Flüsse der Welt, gar der Fluss der Geschichte, der un-aufhörlich fließt, enthalten wären. Hat Milosz am Ende des 20. Jahrhunderts und fast zum Schluss seines Lebens den Konflikt zwischen dem individuellen und universellen Da-sein überwunden? Oder wundert er sich über die unbegreif-liche Unzertrennbarkeit der beiden Daseinsformen?
Auch die Beschreibungen des Flusses Issa durchklingen ähnliche Gedanken und Stimmungen, wohlgemerkt, die Beschreibungen aus der Perspektive eines Kindes. Wir le-sen:

Der Fluss war für Tomasz riesengroß. (...) Tomasz versteckte sich im Gebüsch, kletterte auf einen Weidenstamm und verbrachte horchend etliche Stunden im Anschauen des Wassers.

Aus: "Wo der Fluss von Czeslaw Milosz beginnt"
(Artur Becker, Aufsätze, Manuskript, 235 S., 1997 -
2000, © by Artur Becker)

 

Flüsse

Czeslaw Milosz

Sie überdauern alles, die Flüsse!" Wenn man bedenkt: Ir-gendwo in den Bergen sprudeln ihre Quellen plötzlich aus dem Fels hervor, rieseln zunächst noch als schmale Bäch-lein dahin, schwellen an, vereinigen sich endlich zu einem Fluss, der Jahrhunderte und Jahrtausende durchströmt. Völker und Zivilisationen kommen und gehen, was jedoch stets gleich bleibt, ist der Fluss - und doch ist er nicht ganz der gleiche, denn sein Wasser ist immer ein anderes. Sein Lauf und sein Name bleiben bestehen, als Metapher für den Fortbestand der Form und den Wandel des Inhalts. Die Flüsse, die es heute in Europa gibt, waren auch schon zu einer Zeit vorhanden, als es noch keines der heutigen euro-päischen Länder und keine bekannte Sprache gab. In den Namen der Flüsse haben die ausgestorbenen Völker und deren Dialekte ihre Spuren hinterlassen. Das ist jedoch so lange her, dass man auf Vermutungen angewiesen ist, und wenn der eine Wissenschaftler glaubt, etwas entschlüsselt zu haben, wird dies sogleich vom nächsten heftig ange-zweifelt, da es nicht nachweisbar ist. Man weiß nicht ein-mal, wie viele dieser Namen es schon vor der indoeuropäi-schen Invasion, etwa zwei- bis dreitausend Jahre vor Chris-tus, gegeben hat. Unsere Zivilisation hat das Wasser der Flüsse vergiftet, und diese Verschmutzung wird immer stärker auch emotional bewertet. Da der Lauf des Flusses ein Symbol für die Zeit ist, liegt es nahe, auf eine vergiftete Zeit zu schließen. Doch die Quellen sprudeln weiter, und so vertrauen wir darauf, dass auch die Zeit einst wieder ge-reinigt sein wird. Ich liebe es, dem Fließen des Wassers zu-zusehen, und gerne würde ich alle meine Sünden den Flu-ten übergeben, damit sie ins Meer hinausgeschafft werden.

Aus: "Hündchen am Wegesrand"
(Czeslaw Milosz, Hanser Verlag, München 2000,
© 1998 by Czeslaw Milosz)

Schwarzer Fluss Magdalena

Artur Becker

Und wieder schwarzer Fluss
Fließt zu dir Magdalena
Schwer ist es morgens aufzustehen
Wenn der Schornsteinfeger mit der Katze
Noch schläft
Schwarzer Fluss ringsum uns
Wie ein Festungsgraben
Zünde dich nicht an Geliebte
Noch ist der Himmel über dir
Noch küssen deine Füße die Erde
Aus dem Boot steigt die Nacht aus
Mit dem Mantel der Dunkelheit
Will sie dich erwärmen
Aber du Magdalena las dich nicht überreden
Obwohl du alleine am Ufer stehst
Zeig der Nacht deine Fingernägel
Sag dem Briefträger nicht weit an der Laterne
Dass du mich liebst

Aus: "Der Gesang aus dem Zauberbottich"
(Artur Becker, Gedichte, Kollektion STINT
bei Hauschild, Bremen 1998, © by Artur Becker)


xvii. Der Fluss Alle

Artur Becker

Nur die Thujen, Granite und Marmor, Skulpturen, die,
die ich in den Tälern der Musen untersuchte, auf Stand-
haftigkeit, Dauer, und die, die mich auf die Probe stell-
ten, ob mein Arm meinem Bruder ein Feind sein könnte;
nein, vielleicht nur die Ziegel, schwerelose Burgtoiletten,
wo die bekreuzigten Ritter gemeinsam, über sich selbst
richtend, in den Fluss urinierten. Ich, der Junge aus dem
Pruzzenland, soll nicht wissen, wie oft sie ihre weißen
Ponchos mit dem Kreuz haben waschen müssen - in
dem Fluss Alle.

Aus: "Dame mit dem Hermelin"
(Artur Becker, Gedichte,
Carl Schünemann Verlag, Bremen 2000,
© by Artur Becker)

 

Kino Muza

Artur Becker

Antek blickte auf das sechshundertjährige Gemäuer, dann nach rechts, auf den mittelalterlichen Graben, der so groß war wie ein künstlich angelegter Badesee in einer stillge-legten Sandgrube und zu einem Defilierplatz umgebaut worden war. Er war fünfundzwanzig gewesen. Eine junge Russin aus dem benachbarten Grenzort Bagrationowsk - eine zwanzigjährige fremde Schönheit - war nach Barto-szyce gekommen, um ihre Verwandten zu besuchen. Es war ihre erste Reise ins Ausland. Bei einem spontanen Nachtspaziergang passierte es dann. Und Antek war zufäl-lig in der Nähe des Tatorts gesehen worden. Er hatte wie immer nicht einschlafen können und in den astronomischen Jahrbüchern rumgelesen, wo er kleine, unbedeutende Ent-deckungen gemacht hatte, über die sich vermutlich jeder kaputt lachen würde. Und doch kam er zuweilen auf Ideen, die ihn stolz machten, obwohl sie ihm verrückt erschie-nen. In jener Nacht, als die Russin ermordet wurde, war er überglücklich auf dem Marktplatz herumgeschlendert, dann zum Mietshaus seiner Eltern spaziert, die schon schliefen, und zum Defilierplatz der Kommunisten. Dort hatte er sich auf die Tribüne gesetzt und sich über seine Entdeckung gefreut: Seine Stadt lag an einem Fluss, den die Deutschen die Alle nannten - wie das All, dachte er, und die Woiwodschaftshauptstadt Olsztyn hieß einmal Al-lenstein - wie der Kern des Alls, das Zentrum jeder Gala-xie, dachte er.

Aus: "Kino Muza" (Artur Becker, Roman, Hoffman und Campe Verlag, Hamburg 2003, © by Artur Becker)


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