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Wie verkauft man die Bibel?

Der Tod lauerte auf der Straße - Für viele Polen begann mit dem Kriegsende 1945 eine schwierige Zeit, der vermeintliche Frieden stellte sich erst ab 1945 ein

Von Artur Becker

 

Als deutsche Soldaten am 2. April 1941 auch in das kleine Dorf Zamęty in Großpolen einfielen und meine Großmutter Natalia, Jahrgang 1913, aus dem Schlaf rissen, konnte sie  nicht ahnen, dass sie in dieser Nacht eine der zahlreichen Arbeitssklavinnen des Dritten Reiches werden würde. Sie kam nach Roloven bei Hannover, wo sie auf einem Bauernhof lernte, Kühe zu melken, Essensreste zu stehlen und kranke Zwangsarbeiter oder KZler, die auf der Flucht waren, gesund zu pflegen.
Nach dem Ende des Krieges wollte niemand  ihrer Geschwister, die wie sie die Zwangsarbeit oder ein KZ in Deutschland überlebt hatten, nach Polen zurückkehren. Sie bemühten sich alle um eine Ausreise nach Kanada, in die USA oder nach England, und manche wollten selbst in Deutschland bleiben, allerdings in der von den Amerikanern kontrollierten Zone, denn keiner von ihnen betrachtete die Befreiung ihrer Heimat durch die Rote Armee als eine wirkliche Befreiung: Sie sahen  darin eine neue Besatzung. Die zweiunddreißigjährige Natalia wollte aber so schnell wie möglich zu ihrem Sohn zurückkehren ‒ nach vier langen Jahren des Zweifels, ob sie ihr Kind jemals wiedersehen würde. Dessen Vater  war in den Dreißigerjahren im Steinbruch umgekommen, und der Junge hatte den Krieg bei seinen Großeltern in Zamęty verbracht: Sein Großvater, für den Partisanenkrieg viel zu alt, galt dort als ein berühmter Quacksalber.
Nach Natalias Rückkehr war sie für ihren Sohn eine fremde Frau geworden, die obendrein einen von Krieg und Terror gezeichneten Stiefvater aus Deutschland mitgebracht hatte. Als ich neulich wieder einmal in alten Dokumenten meiner polnischen Familie herumstöberte, stieß ich auf die Heiratsurkunde von Natalia und ihrem Mann Zefiryn, den sie auf einem benachbarten Bauernhof bei Hannover kennengelernt hatte: einen polnischen Zwangsarbeiter, den Sohn des Posener Postdirektors. Am 22. Mai 1945 wurde ihre Ehe im Standesamt Ihme, heute einem Stadtteil von Hannover, geschlossen: zwei Wochen nach dem Ende des Krieges, als wäre nichts geschehen. Und im Juli 1945 lebte Natalia mit ihrem fünf Jahre jüngeren, gut aussehenden und gebildeten Mann immer noch in Deutschland, das geht zumindest aus ihrem Ausweis, der sogenannten D. P. Index Card der amerikanischen Zone, hervor, und sie hatte eigentlich keinen Grund zur Klage, obwohl all die Kriegsjahre die Sehnsucht nach ihrem Sohn schwer zu ertragen war.
Meine polnische Großmutter hatte Glück gehabt: Sie wurde nicht wie ihr Mann während der vierjährigen Zwangsarbeit fast zu Tode geprügelt, hatte kein einziges Mal die Bleikugel einer Lederpeitsche abbekommen und musste nicht hungern ‒ die deutsche Bauernfamilie, bei der Natalia »untergebracht« gewesen war, hatte sogar geholfen, einen ihrer Brüder nach der Flucht aus einem KZ bis zum 8. Mai 1945 zu verstecken und durchzufüttern.
Als ich ein fünfzehnjähriger Junge war und noch in Polen lebte, fragte ich meine Großmutter immer wieder wütend und von patriotischen Gefühlen beschwipst, warum ihr späterer Mann, der bei überzeugten Nazis hatte schuften müssen und aufgrund der täglichen sadistischen Prügel an Schizophrenie erkrankte, seinen Peinigern nicht gleich nach dem Ende des Krieges die Kehle durchgeschnitten habe? Ihre Antwort war stets besonnen gewesen. Man habe plötzlich keinen Hass mehr gespürt, weil man so glücklich darüber gewesen sei, endlich frei sein zu können; außerdem habe überall Chaos geherrscht, Täter seien unsichtbar geworden, und man habe niemandem trauern können. Natalia, eine hübsche Bauerntochter, hatte diverse Heiratsanträge abgelehnt, auch solche, die von Zwangsarbeitern aus Belgien und Frankreich kamen, und sie erklärte mir, sie habe deshalb diese Anträge abgelehnt, weil die in sie schwer verliebten Jungs Antisemiten gewesen seien ‒ an ihrer Gesinnung habe das Kriegsende nichts geändert.

 

Das Land war total zerstört,
es glich einer einzigen Trümmerwüste

Ihre Aussage bringt mich heute immer noch zum Staunen, wird doch im Allgemeinen gern das Stereotyp gebraucht, ein Durchschnittspole der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts sei ein Antisemit per se gewesen. Natalia, eine einfache Katholikin, ging in ihrer katholisch-folkloristischen Nächstenliebe jedoch noch weiter: Nie hörte ich aus ihrem Mund ein böses rachesüchtiges Wort über die Deutschen und ihre Schuld ‒ sie war stets um Versöhnung bemüht und brachte mir in meiner Kindheit viel mehr Deutsch bei als meine ostpreußische Großmutter Erna aus Bartenstein.
Im Herbst 1945 fuhr Natalia mit ihrem jungen Mann endlich im Zug nach Polen zurück ‒ über Stettin und Posen und zum Schluss in ihr großpolnisches Dorf bei Kalisz, zu ihrem Sohn. Das Land war total zerstört ‒ im Prinzip hatten die Deutschen und die Russen nur Krakau verschont, es glich nämlich einer Trümmerwüste, was den Heutigen gar nicht mehr bewusst ist, weil man viel zu oft vergisst, dass nach der Zerstörung durch die Deutsche Wehrmacht mit dem Siegeszug der Roten Armee die zweite Welle der Vernichtung gekommen war.
Für meine polnischen Großeltern begann im Herbst 1945 eine schwierige Zeit: der vermeintliche Frieden stellte sich erst ab 1948 ein. Die ersten drei Jahre standen unter dem Zeichen der politischen Umwandlung Polens: Natalias Mann wurde im ehemaligen Ostpreußen, wohin das junge Ehepaar mit seinen Kindern gezogen war, Zeuge der brutalen Stalinisierung seiner Heimat. Er konnte Geige spielen, liebte die Literatur, sprach Deutsch und Französisch und verfügte über eine bürgerliche Bildung aus der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen, die er in Posen verbracht hatte. In Ermland und Masuren, den sogenannten »Wiedergewonnen Gebieten«, lebte er in den ersten Nachkriegsjahren gefährlich. In den Wäldern versteckten sich Partisanen, die gegen die Kommunisten kämpften und mit der polnischen Exilregierung in London sympathisierten. Zefiryn wurde von den Partisanen drei Mal entführt, doch den neuen kommunistischen Machthabern, die mit den russischen Soldaten im ehemaligen Ostpreußen oft Katz und Maus spielten, war die Bildung genauso wichtig wie »den antisozialistischen Subjekten und Faschisten«. Jedenfalls gelang der Miliz jedes Mal die Befreiung  ihres Dorflehrers, und als er mit seiner Frau und seinem Stiefsohn und der ersten Tochter nach Bartoszyce kam, das bis 1945 Bartenstein geheißen hatte, begann für die junge Familie das nächste Abenteuer: in einer ‒ würde man heute sagen ‒ Multikultigesellschaft. In dem Städtchen nahe der neuen Grenze, die von den Sowjets immer wieder zugunsten ihres gewachsenen siegreichen Sowjetreiches verschoben wurde, trafen Natalia und Zefiryn auf Deutsche, Litauer, Weißrussen, Ukrainer, Polen und Juden. Der erste Bürgermeister von Bartoszyce, ein Pole, kümmerte sich um die in seinem Städtchen lebenden Deutschen genauso pflichtbewusst und human wie um die anderen Bürger, aber das war natürlich nicht die Regel. Die größten Dramen spielten sich nämlich immer noch im täglichen Leben mit den Siegern ab. Die russische Kommandatur in Olsztyn, der Woiwodschaftshauptsadt, wurde mit ihren vagabundierenden und raubenden Soldaten nicht fertig, und ein durchschnittlicher Rotarmist konnte zwischen einer Zwangsarbeiterin aus Hannover, einer Masurin und einer Ostpreußin aus Königsberg kaum unterscheiden. Die Kriegsbeute lag sozusagen auf der Straße.
In Bartoszyce lebte auch meine ostpreußische Großmutter Erna, die mit mir bis heute ‒ sie ist mittlerweile 90 Jahre alt ‒ kein Deutsch spricht, sondern Polnisch. Für sie war der Zweite Weltkrieg 1945 gar nicht zu Ende gegangen; nach den Vergewaltigungen im Februar desselben Jahres kam sie ins Gefängnis in Bartoszyce, erkrankte dort an Typhus, gewann den Todeskampf und heiratete schließlich einen ehemaligen Wehrmachtssoldaten, der zwar polnische Eltern gehabt hatte, aber von einem galizisch-österreichischen Stiefvater adoptiert worden war. Der junge Mann brachte seiner Frau Polnisch bei und musste viele Jahre später auf der Hochzeit seines Sohnes dem Schwiegervater Zefiryn, der im September 1939 in der polnischen Armee gekämpft hatte, die Hand drücken.

Für Erna begann nach dem Krieg eine Zeit der täglichen Erniedrigung durch die neuen Bürger der Woiwodschaft, die erst mit dem Tauwetter 1956 und vor allem nach den Friedensverträgen von 1970 und dem Kniefall ein Ende fand. Aber im Herbst 1945, als Morde an der buntscheckigen Zivilbevölkerung Masurens durch die Hand der marodierenden Rotarmisten und der polnischen Jungstalinisten  noch zum Alltag gehörten, lebte meine ostpreußische Großmutter mit der Angst vor dem zufälligen und banalen Tod, der auf der Straße auf die Deutschen lauerte. Auf ihrer neuzigsten Geburtstagsfeier vertraute sie mir an, es sei furchtbar gewesen, was die Polen mit ihr und den anderen Deutschen nach 1945 angestellt hätten, sie fügte aber dann hinzu, sie könne es  verstehen, denn das, was den Polen von den Deutschen angetan worden ist, sei noch schlimmer gewesen.

 

 

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