NZZ Vorabdruck

nzz, 02.09.08, Nr. 204, S. 45, fe, Teil o1

Wodka und Messer
von Artur Becker

Niemand wusste, warum der Dadajsee in Warmia unersättlich war und immerfort neue Opfer forderte. Auch nicht Kuba Dernicki, der Mann mit zwei Bauchnabeln, der Mitte vierzig war. Die Menschen ertranken einfach, und ihre Seelen klopften des Nachts an die Fenster und Türen der Häuser und Kuhställe von Wilimy, weil sie den Weg ins Jenseits nicht finden konnten. Ihre Seelen irrten im Dorf umher, bliesen auf dem Kamm lustige Lieder, und die Männer erschraken und wurden wach und wollten tanzen und Wodka trinken gehen, um die bösen Träume von Messerstechern und aufgeschlitzten jungen Frauen abzuwehren. Hunde verliessen ihre dunklen Hütten und Buden, sprinteten auf die im nächtlichen Herbst-tau flackernden Wiesen und winselten. Sie heulten den Vollmond an, als wären sie von ihren Herrchen vom Hof verjagt worden. Und waren die Winter hartnäckig, das Eis auf dem See hart wie Stein und die Temperaturen auf minus siebenundzwanzig Grad gesunken, bissen die Hundemütter ihre Nachkommen tot, um zu überleben und um einer neuen Brut eine Chance zu geben. Die Frauen der Fischer drehten sich im Bett auf die andere Seite und schluchzten im Schlaf vor sich hin: «Schon wieder ein Ertrunkener! Kurwa, was für eine Welt! Was für eine Welt!»
Im ganzen Dorf hatte es sich blitzartig herumgesprochen, dass am Donnerstag Kuba Dernicki zu Besuch kommen würde, Tante Alas alter Neffe. Wilimy lag am nordwestlichen Ufer des Dadajsees: Hier wurde Kuba 1960 gezeugt und geboren, und hier hatte er bis zum Abitur gelebt. Tante Ala, die Schwester seiner Mutter, war jetzt sechsundsechzig und in dieser Gegend selbst der letzten Gans bekannt. Und dreihundert Dorfbewohner sprachen von nichts anderem mehr als von dem Besuch ihres Neffen. Fischer und Arbeitslose, Säufer und Taugenichtse, Kinder und Bauern, welche die Gänse fütterten und die Touristen mit frisch gelegten Eiern und kaltem Bier versorgten, wurden von dieser Nachricht in höchste Aufregung versetzt. Aber nur wenige wussten zu sagen, wer Kuba Dernicki war. Tante Alas Liebhaber, der Hilfsarbeiter Wojtek, der greise Pfarrer Kazimierz und viel-leicht das eine oder andere alte Weib, Grossmütter, die den ganzen Tag auf der Bank im Vor-garten sassen, beteten, schwatzten und klagten, wussten natürlich, um wen es sich bei dem hohen Besuch aus dem Ausland handelte; einige kannten Kuba seit seiner Kindheit. Vielleicht wussten noch die Augustäpfel und die Aale und der Dadajhimmel, wer Kuba Dernicki war. Viel-leicht, vielleicht. «Was für eine Welt!», schrien die alten Weiber und Männer, die zum Frühstück den Wildblütenhonig von der letzten Frühlingsernte auf ihre Brote schmierten. Ihre Zungen klebten süss am Gaumen, ihre verbliebenen Zähne, die mit Drähten zusammengehalten wurden, taten ihnen seit Jahren weh, aber sie sprachen nur noch von einem: «Kuba Dernicki kommt nach Wilimy, morgen Abend! Oder am Freitag, wenn in unserem Hotel Justyna Star die Hochzeit der Tochter des sechzigjährigen Bürgermeisters von Biskupiec gefeiert wird, spätestens zu dieser prächtigen Feier dürfen wir ihn erwarten!»
Gerade vor zwei Wochen hatte es in Wilimy schon etwas Unfassbares gegeben. Folgendes war geschehen: Die Direktorin des Hotels Justyna Star hatte die Dorfbewohner zu einem öffentlichen Begräbnis eingeladen. Viele, wohl vonihrer Neugier getrieben, folgten dieser unerwarteten, von Pfarrer Kazimierz auf einer seiner Sonntagsmessen im Garten ausgesprochenen Einladung. Doch niemand wusste, wen ihre Pani Justyna da so pompös, mit vier Trauerkränzen, gross wie Rettungsringe, auf dem kleinen, noch von den Ostpreussen angelegten Friedhof zu beerdigen beabsichtigte. Kazimierz hielt eine lange Rede über eine verlorene, der verehrten Direktorin teure Seele. Ob sie männlich oder weiblich war, jung oder alt, konnte niemand so recht aus dieser Lobeshymne und den darauffolgenden Gebeten heraushören. Nicht einmal auf der Toten-feier im Hotel Justyna Star, zu der einige ausgewählte Gäste kamen – die Prominenz von Wilimy, der Dorfvorsteher, die Küchen- und Putzkräfte des Hotels, die Fischer und der Pfarrer Kazimierz –, erhielt man von der Direktorin irgendwelche Auskünfte über den unbekannten Toten. Man fragte sich, warum nicht wenigstens die engste Verwandtschaft und die engsten Freunde von Pani Justyna Star angereist waren – aus fernen Städten und Ländern. Fremde aus benachbarten Dörfern pilgerten nun seit Tagen zu dem Grab des unbekannten Toten, weil sie sich selbst davon überzeugen wollten, dass, wie ihnen berichtet wurde, in seinen Grabstein nur ein Kreuz gemeisselt sei. Sie schlugen die Hände über dem Kopf zusammen und murmelten: «Das ist Gotteslästerung! Was diese Neureichen sich heutzutage alles erlauben dürfen! To wola o pomste do nieba! Lasst uns den Himmel um Rache anflehen!»
Im Moment aber schien der Besuch aus dem Ausland wichtiger zu werden als die Beerdigung und das Grab des unbekannten Toten. Man fragte sich: Wer ist dieser Ausländer, der sogar einmal unter uns gelebt haben soll?
Als Kuba Dernicki ein Kind war, hörte er immer wieder, in den Gewässern des Dadajsees würden Jahr für Jahr mehr Menschen ertrinken als in allen anderen Seen der Woiwodschaft Warmia und Masuren. Die Opfer waren vor allem Kinder und Jugendliche, aber auch betrunkene Soldaten und Hochzeitsgäste, Touristen, Tramper und Obdachlose, die es an diesen Ort verschlagen hatte. Doch selbst die hiesigen Fischer oder Wilderer mussten sich in acht nehmen, denn es war schon vorgekommen, dass ein Fischerboot zusammen mit fünf Mann auf Nimmerwiedersehen verschwand, und niemand konnte erklären, wohin: Von den Männern und ihrem Boot hatte jede Spur gefehlt. Der Hunger, der Durst, die Gier nach Blut, nach frisch gemolkener Kuhmilch, nach Wodka und Tanz, die Gier der Frauen und Männer nach Sex, all die Gier des Dadajsees und seiner Ufer und Inseln kochten in den Bäuchen der Einheimischen und Touristen, die sich Sommer für Sommer trafen und an einem Tisch zusammen speisten, tranken und zankten.

Artur Becker, 1968 als Sohn polnisch-deutscher Eltern in Bartoszyce (Masuren) geboren, lebt seit 1985 in Deutschland. Der vorliegende Text ist ein Ausschnitt aus seinem neuen Roman «Wodka und Messer. Lied vom Ertrinken», der in den nächsten Tagen im Verlag weissbooks.w erscheint.

 

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