Wodka und Messer. Lied vom Ertrinken
Roman
© weissbooks.w, Frankfurt 2008

Prolog
Das Mohnblumenfeld und die Vogelscheuche

Du unser stacheliger See, der du immer Sommer und Winter heißt … So einfach ist das, wenn man in dir ertrinkt − mein junges verängstigtes Herz ist durstiger und stärker, als ich es je vermutet habe, dachte Marta und spürte, wie sich ihre Lunge und dann ihr Bauch mit dem Wasser füllten, mitten in der Nacht, mitten im Winter, an ihrem letzten Silvester. Jetzt weißt du es, dachte sie noch, das Fegefeuer ist in Wirklichkeit kalt, denn du hattest nur Durst, gewaltigen heißen Sommerdurst, und nun ist alles gut und vorbei … Du wirst nie wieder das Wasser  des  Fegefeuers  trinken  müssen, dein Durst ist gelöscht ... Öffne noch einmal die Augen − dein Liebster kann dich nicht mehr sehen  … Es gibt sieben Todsünden, aber keine einzige ist tödlich und keine einzige hast du begangen, und trotzdem musst du jetzt sterben, obwohl du noch so viel zu sagen hättest – du wolltest deinem Liebsten noch so viel sagen, ihm deinen letzten Traum, ihm noch eine Nacht schenken, und er kann dich nicht mehr hören, aber sprich weiter, erzähl ihm ein letztes Mal eine Geschichte: Gestern träumte ich wieder, mein Liebster, ich sei eine Vogelscheuche, stünde inmitten von  Mohnblumen im roten Schwimmbecken bis zu den Hüften ... Den  Himmel  sah ich kaum unter meinem Filzhut ... Löcher in der Hose hatte ich keine, was für ein Wunder! Keine Löcher im Sakko und in meinem Hemd!  Ich   stand  so viele Nächte und Tage, die kein Ende nahmen ... Mit schwerem Kopf wachte ich auf, mutlos, entmündigt, durch was und wen? Mit schweren Augen setzte ich mich an den Tisch, dann auf die Fensterbank und träumte weiter, wovon? Keiner sagt, wovon, vielleicht von einem alten Haus am Waldrand – von einer Hütte, wie sie in den Bergen zu finden ist ... Dann sah ich dich, mein Liebster, vor diesem Haus, der Schornstein rauchte nicht ... Und  da  wusste  ich,  wie gut es eine Vogelscheuche hat ... Sie lebt nicht, greift nicht an, schaut aber sehr genau, wer vorbeigeht, wer sie ohne Abschiedsworte   stehen  lässt in Mohnblumen auf einem alten Feld … Die abendlichen Spaziergänger sagen nicht zu ihr: »Wir sind gekommen, um dich auf den Tod vorzubereiten.« Die abendlichen Spaziergänger schweigen, und die Vogelscheuche muss sich Tag für Tag selbst die Frage stellen: »Ist es schon so weit? Und welchen Tod meint ihr?«

 

Erster Teil
Martas Augen

1

Der Bauchredner und sein Brüderchen Kopernik

Niemand wusste, warum der Dadajsee in Warmia unersättlich war und immerfort neue Opfer forderte. Auch nicht Kuba Dernicki, der Mann mit zwei Bauchnabeln, der Mitte Vierzig war. Die Menschen ertranken einfach, und ihre Seelen klopften des Nachts an die Fenster und Türen der Häuser und Kuhställe von Wilimy, weil sie den Weg ins Jenseits nicht finden konnten. Ihre Seelen irrten im Dorf umher, bliesen auf dem Kamm lustige Lieder, und die Männer erschraken und wurden wach und wollten tanzen und Wodka trinken gehen, um die bösen Träume von Messerstechern und aufgeschlitzten jungen Frauen abzuwehren. Hunde verließen ihre dunklen Hütten und Buden, sprinteten auf die im nächtlichen Herbsttau flackernden Wiesen und winselten. Sie heulten den Vollmond an, als wären sie von ihren Herrchen vom Hof verjagt worden. Und waren die Winter hartnäckig, das Eis auf dem See hart wie Stein und die Temperaturen auf minus siebenundzwanzig Grad gesunken, bissen die Hundemütter ihre Nachkommen tot, um zu überleben und um einer neuen Brut eine Chance zu geben. Die Frauen der Fischer drehten sich im Bett auf die andere Seite und schluchzten im Schlaf vor sich hin: »Schon wieder ein Ertrunkener! Kurwa, was für eine Welt! Was für eine Welt!«
Im ganzen Dorf hatte es sich blitzartig herumgesprochen, dass am Donnerstag Kuba Dernicki zu Besuch kommen würde, Tante Alas alter Neffe. Wilimy lag am nordwestlichen Ufer des Dadajsees: Hier wurde Kuba 1960 gezeugt und geboren und hier hatte er bis zum Abitur gelebt. Tante Ala, die Schwester seiner Mutter, war jetzt sechsundsechzig und in dieser Gegend selbst der letzten Gans bekannt. Und dreihundert Dorfbewohner sprachen von nichts anderem mehr als von dem Besuch ihres Neffen. Fischer und Arbeitslose, Säufer und Taugenichtse, Kinder und Bauern, welche die Gänse fütterten und die Touristen mit frisch gelegten Eiern und kaltem Bier versorgten, wurden von dieser Nachricht in höchste Aufregung versetzt. Aber nur wenige wussten zu sagen, wer Kuba Dernicki war. Tante Alas Liebhaber, der Hilfsarbeiter Wojtek, der greise Pfarrer Kazimierz und vielleicht das eine oder andere alte Weib, Großmütter, die den ganzen Tag auf der Bank im Vorgarten saßen, beteten, schwatzten und klagten, wussten natürlich, um wen es sich bei dem hohen Besuch aus dem Ausland handelte; einige kannten Kuba seit seiner Kindheit. Vielleicht wussten noch die Augustäpfel und die Aale und der Dadajhimmel, wer Kuba Dernicki war. Vielleicht, vielleicht. »Was für eine Welt!«, schrien die alten Weiber und Männer, die zum Frühstück den Wildblütenhonig von der letzten Frühlingsernte auf ihre Brote schmierten. Ihre Zungen klebten süß am Gaumen, ihre verbliebenen Zähne, die mit Drähten zusammengehalten wurden, taten ihnen seit Jahren weh, aber sie sprachen nur noch von einem: »Kuba Dernicki kommt nach Wilimy, morgen Abend! Oder am Freitag, wenn in unserem Hotel Justyna Star die Hochzeit der Tochter des sechzigjährigen Bürgermeisters von Biskupiec gefeiert wird, spätestens zu dieser prächtigen Feier dürfen wir ihn erwarten!«
Gerade vor zwei Wochen hatte es in Wilimy schon etwas Unfassbares gegeben. Folgendes war geschehen: Die Direktorin des Hotels Justyna Star hatte die Dorfbewohner zu einem öffentlichen Begräbnis eingeladen. Viele, wohl von ihrer Neugier getrieben, folgten dieser unerwarteten, von Pfarrer Kazimierz auf einer seiner Sonntagsmessen im Garten ausgesprochenen Einladung. Doch niemand wusste, wen ihre Pani Justyna da so pompös, mit vier Trauerkränzen, groß wie Rettungsringe, auf dem kleinen, noch von den Ostpreußen angelegten Friedhof zu beerdigen beabsichtigte. Kazimierz hielt eine lange Rede über eine verlorene, der verehrten Direktorin teure Seele. Ob sie männlich oder weiblich war, jung oder alt, konnte niemand so recht aus dieser Lobeshymne und ihr darauf folgenden Gebeten heraushören. Nicht einmal auf der Totenfeier im Hotel Justyna Star, zu der einige ausgewählte Gäste kamen – die Prominenz von Wilimy, der Dorfvorsteher, die Küchen- und Putzkräfte des Hotels, die Fischer und der Pfarrer Kazimierz –, erhielt man von der Direktorin irgendwelche Auskünfte über den unbekannten Toten. Man fragte sich, warum nicht wenigstens die engste Verwandtschaft und die engsten Freunde von Pani Justyna Star angereist waren – aus fernen Städten und Ländern. Fremde aus benachbarten Dörfern pilgerten nun seit Tagen zu dem Grab des unbekannten Toten, weil sie sich selbst davon überzeugen wollten, dass, wie ihnen berichtet wurde, in seinen Grabstein nur ein Kreuz gemeißelt sei. Sie schlugen die Hände über dem Kopf zusammen und murmelten: »Das ist Gotteslästerung! Was diese Neureichen sich heutzutage alles erlauben dürfen! To woła o pomstę do nieba! Lasst uns den Himmel um Rache anflehen!«
Im Moment aber schien der Besuch aus dem Ausland wichtiger zu werden als die Beerdigung und das Grab des unbekannten Toten. Man fragte sich: Wer ist dieser Ausländer, der sogar einmal unter uns gelebt haben soll?  
Als Kuba Dernicki ein Kind war, hörte er immer wieder, in den Gewässern des Dadajsees würden Jahr für Jahr mehr Menschen ertrinken als in allen anderen Seen der Woiwodschaft Warmia und Masuren. Die Opfer waren vor allem Kinder und Jugendliche, aber auch betrunkene Soldaten und Hochzeitsgäste, Touristen, Tramper und Obdachlose, die es an diesen Ort verschlagen hatte. Doch selbst die hiesigen Fischer oder Wilderer mussten sich in Acht nehmen, denn es war schon vorgekommen, dass ein Fischerboot zusammen mit fünf Mann auf Nimmerwiedersehen verschwand, und niemand konnte erklären, wohin: Von den Männern und ihrem Boot hatte jede Spur gefehlt. Der Hunger, der Durst, die Gier nach Blut, nach frisch gemolkener Kuhmilch, nach Wodka und Tanz, die Gier der Frauen und Männer nach Sex, all die Gier des Dadajsees und seiner Ufer und Inseln kochten in den Bäuchen der Einheimischen und Touristen, die sich Sommer für Sommer trafen und an einem Tisch zusammen speisten, tranken und zankten.  
1967, als Kuba sieben Jahre alt wurde, verlor Tante Ala auf ihrer eigenen Hochzeit in Wilimy das linke Auge. Es war im Spätsommer gewesen, kurz vor der Heidekrauternte. Kubas Vater Adelbert Dernicki arbeitete, wie alle ehemaligen Ostpreußen, die es nach dem Zweiten Weltkrieg nicht geschafft oder für nötig gehalten hatten, nach Deutschland auszuwandern, in der Fischerei von Najdymowo, einem Dorf am gegenüberliegenden Ufer des Dadajsees. Er hatte im Wodkarausch nicht nur seine Frau, sondern auch den Bräutigam erstochen, weil er dachte, dass die beiden sich seit langem heimlich getroffen und auf der Hochzeit –  obendrein – in einer dunklen Kammer gevögelt hätten. Ala hatte sich anschließend mit einer Gabel in der Hand auf ihren Schwager gestürzt, aus Wut, Hilflosigkeit und Verzweiflung, und hatte versucht, ihm die Gabel in den Nacken zu rammen. Kubas Vater wehrte sich und verletzte Ala mit dem Messer am linken Auge. Sie  hätten einander bestimmt umgebracht, wenn Adelberts Cousins nicht dazwischengegangen wären. Sie befreiten Tante Ala und schubsten sie in die Arme ihrer Ehefrauen, überwältigten den besoffenen Messerstecher und sperrten ihn im Keller ein, wo er die Nacht verbringen musste. Tante Ala fiel erst einmal in Ohnmacht, und nachdem sie  notdürftig verarztet wurde und wieder zu sich gekommen war, brachte sie kein Wort mehr heraus. Stumm und mit bandagiertem Kopf und Auge saß sie draußen auf einem Stuhl und starrte einen verfaulten Augustapfel an, der im Gras direkt zu ihren Füßen lag und an dem sich Schmetterlingsraupen satt fraßen. Sie klagte nicht einmal über ihre Verletzung und ihre Schmerzen. Die Leichen der Erstochenen brachte man im Kühlhaus unter, wo normalerweise der Fisch lagerte. Der Pfarrer Kazimierz versuchte noch am selben Abend, Adelbert Dernicki die Beichte abzunehmen, gab aber nach einer Stunde verdrossen seine Bemühungen auf, weil sein Schäflein, wie er Kubas Vater nannte, ihn gänzlich ignorierte. Kazimierz setzte sich in seinen Warszawa und rief aus dem heruntergekurbelten Fenster den Eltern der Braut zu, er würde für die Seelen der beiden Erstochenen eine großartige Totenmesse halten, wie sie die Welt noch nie gesehen hätte. In Jesus Christus lebe jeder ewig! Auch ein Verbrecher und seine Opfer!
Die Miliz auf dem Lande war faul und von der Dringlichkeit eines Notfalls immer wieder schwer zu überzeugen, weil es meistens um belanglose Schlägereien zwischen Säufern ging, die zudem bestens bekannt waren – so auch in diesem Fall, und deshalb holten sie Adelbert Dernicki erst am frühen Morgen, als er schon ausgenüchtert war, und sie waren verwundert, dass er seine eigene Frau und einen jungen, unschuldigen Mann umgebracht haben sollte, ausgerechnet seinen alten Schulfreund Bogdan. Die ganze Nacht hatte Adelbert gebrüllt, und seine Stimme glich mehr der eines tödlich verwundeten Tieres als der eines Menschen: »Was habe ich bloß getan? O Gott! Was habe ich bloß getan? O Gott!«, wimmerte er, während er in Handschellen abgeführt wurde.
Adelbert kam ins Gefängnis im nahe gelegenen Barczewo, wo er eine lebenslange Strafe absitzen sollte und wo auch der Gauleiter Ostpreußens Erich Koch – ursprünglich zum Tode verurteilt, dann schwer erkrankt – seine lebenslange Strafe verbüßte. Koch spuckten die Häftlinge aus ihren Zellenfenstern auf seinen mit einer Wollmütze bedeckten Kopf, wenn er den täglichen halbstündigen Spaziergang in einem kleinen Innenhof absolvierte – wer von den Häftlingen dies nicht tat, wurde als Nazi beschimpft und musste mit einem gebrochenen Finger oder ausgeschlagenen Zahn rechnen; im schlimmsten Fall wurde er zur Fellatio gezwungen.
Kubas Erziehung übernahmen Renia und Kostek Podlichowie, die ermländischen Großeltern mütterlicherseits. Er blieb in Wilimy bei den Katholiken, den polnischen Fischern, und da Kubas Vater wie alle Dernickis aus Najdymowo stammte, wo vor allem Protestanten wohnten und fischten, entbrannte zwischen den beiden Familien der alte Krieg, den diese Clans seit Generationen führten. Sie zerstörten mutwillig einander ihre Stell- und Treibnetze und die Motorboote, die Männer prügelten sich in der Kneipe oder auf Festen, die Frauen bespuckten sich.
In Najdymowo, da lebten die Teufel, die bösen Deutschen, erzählte ihm einmal seine Oma, Kuba solle sich hüten, mit ihnen zu sprechen, warnte sie ihn, denn sie gingen ja nicht zur Beichte, außerdem hätten sie seine Mutter hingerichtet, und überhaupt seien sie genauso hinterhältig wie die Ukrainer und Juden, und es habe mit ihnen am Dadajsee schon immer großen Ärger gegeben. Die Nachbarn aus Najdymowo wüssten immer alles besser, sie behaupteten andauernd, sie hätten die leistungsfähigeren Traktoren, die größeren Häuser, die klügeren Schüler und die schöneren Dirnen und so weiter.
Als Kuba gerade mal zwölf Jahre alt war, brachten ihn seine Großeltern zum Arzt in Olsztyn. Er hatte einen dicken Bauch, der für seinen schmalwüchsigen Körperbau völlig untypisch war, quasi eine Beleidigung. Man wollte endlich erfahren, was diese merkwürdige Missbildung zu bedeuteten hatte. War es etwa ein riesiges Geschwür? Kuba sah aus, als wäre er im sechsten Monat schwanger. Er trug unter seinem Herzen eine Kugel, die groß war wie eine Wassermelone. Aber da er nie über irgendwelche Schmerzen klagte, ließ man ihn zu Hause und in der Schule in Ruhe. Er hatte sich an seinen dicken Bauch gewöhnt und war durch diese Missbildung besonders darauf erpicht, im Sportunterricht der Beste zu sein, was ihm auch bei einigen Wettkämpfen gelang: Im 60-Meter-Sprint konnte ihn keiner schlagen, und im Weitsprung erzielte er ebenfalls herausragende Ergebnisse. Seine Spielkameraden neckten ihn andauernd, er sei in Wirklichkeit ein Mädchen oder gar ein Zwitter und habe sich vom Förster Romanowski, der Selbstmord begangen hätte und im Wald herumspuken würde, schwängern lassen. »Warum zeigst du uns nie deinen Pimmel?«, warfen ihm seine Freunde vor. Die Mädchen hingegen mieden Kuba gänzlich.
Der Arzt in Olsztyn machte ein Röntgenbild und war so erschrocken und verwundert, dass er die Röntgenaufnahme wiederholte. Erst als er Kubas Großeltern die Negative präsentierte, verstanden sie, warum der Arzt in arge Erklärungsnot geriet. Er sagte, von solch einem Fall wie diesem habe er nicht einmal gehört!, und es grenze an ein Wunder, dass der Junge bis jetzt gesund gewesen sei und über keine Beschwerden geklagt habe. In Kubas Bauch steckte sein Zwillingsbruder, ein ausgewachsener, toter Fötus, konserviert wie eine Mumie. Dem Fötus waren lange Haare und Nägel gewachsen, die Haare rankten sich um seinen Kopf, und die Augen, weit aufgerissen, glichen zwei weißen Schneebeeren. Nach der Operation, die – abgesehen vom Andrang der Presse – ohne Schwierigkeiten verlaufen war, bekam Kuba in der Schule einen Spitznamen: Dwupępek, Zweibauchnabel, denn an der Stelle, wo man ihm seinen Bruder herausgenommen hatte, entstand eine Narbe, die einem Bauchnabel ähnelte – der Chirurg sei ein Metzger und solle lieber Socken stopfen, als unschuldige Bengel zu operieren, empörten sich damals die Großeltern; nichtsdestoweniger verdiente Kuba mit diesem neuen Bauch sogar Geld. Seine Kumpels durften seinen nackten Bauch nur gegen ein kleines Honorar begutachten. Später konnte er auch bei Mädchen mit seiner unglaublichen Geschichte brillieren, vor allem am Gymnasium und auch an der Universität.
Vor der Beerdigung des Fötus kam es zu einem Streit mit den Behörden: Man wollte Kubas Bruder in Formalin einlegen und zu Studienzwecken in einem Kuriositätenkabinett einer bekannten Universität ausstellen. Aber nach dem behördlichen und kirchlichen Einsatz des engagierten Pfarrers Kazimierz durfte Kuba seinen Bruder auf den Namen Kopernik taufen – wie es ihm Opa Kostek vorgeschlagen hatte. »Unser großer Landsmann! Und was haben wir ihm zu verdanken?«, fragte er seinen Enkel oft. »Gott hab ihn selig, den ersten Astronomen, der dem Himmel endlich ein Stück Wahrheit entrissen hat!«
1979 ging Kuba als frischgebackener Abiturient nach Gdańsk, um Informatik zu studieren. Gleich im ersten Semester verliebte er sich in die Medizinstudentin Marta. Eineinhalb Jahre später, während der Streiks an den Hochschulen, wurde er ihre rechte Hand. Sie entschied in einem Studentenkomitee zusammen mit anderen Kommilitonen, wann die Streiks zu Ende waren oder neu zu beginnen hatten – die Boten von Wałęsa, die sie »Sklaven der Revolution« nannte und denen es aufgetragen war, den Beginn oder das Ende eines Streiks zu verkünden, konnten sich bei ihrem Studentenkomitee nie durchsetzen. Martas Spitzname, »Wolna Europa – Freies Europa«, wurde ihr von ihren Freunden verpasst, weil sie viele Stunden am Radio verbrachte, um den gleichnamigen Propagandasender aus München zu hören, der die Streikenden mit haarsträubenden Entlarvungen der Lügen des Sowjetstaates fütterte. Sie verpassten ihr diesen Spitznamen, weil sie die neue Gewerkschaft und Protestbewegung liebte und für jene sogar ihr eigenes Leben opfern wollte, wenn es nur der Sache diente. Und wie hatte Marta ausgesehen? Ihre Nase bevölkerten Sommersprossen, und auf dem Rücken  hatte sie eine Narbe, die von einer Operation an der Hüfte herrührte und die sich immer einsam fühlte und auf Kubas Küsse geduldig wartete. War sie schön? Er sagte zu ihr oft: »… Du bist meine Karausche, und diese Fische sind Überlebenskünstler.« Im Sommer trug sie weiße Sandalen aus Plastik mit bunten Perlenschnüren – dieses unbequeme Schuhwerk, hergestellt in Polen, nicht in China, galt damals als schick, und jedes hübsche Mädchen in Martas Alter musste es haben. Martas Füße litten, sobald sie diese weißen Plastiksandalen mehr als eine halbe Stunde getragen hatte, aber ihre roten Schwielen waren schön. Sie kannte »Das Kapital« von Marx, und nicht nur ein paar berühmte Zitate daraus. Marta hatte Hunderte von Seiten gelesen und liebte den Bibliotheksgeruch der dicken Bände, des vergilbten Papiers. Sie hatte sogar Jacek Kuroń interviewt, bei ihm zu Hause. Und sie war in Rom auf einem Konzert von Peter Gabriel gewesen. Sie schenkte Kuba Polaroidfotos vom Forum Romanum, und sie wusste, wie die sieben Hügel hießen, auf denen die ewige Stadt gebaut war. Eigentlich wollte sie ihr Medizinstudium in Rom beenden, sie jobbte als Arzthelferin und hatte keine allzu großen Geldsorgen; sie musste nicht – wie viele Polen – an der Piazza Venezia die Windschutzscheiben der Pkws putzen und um Lire betteln. Doch nachdem sie aus dem Fernsehen und Radio erfahren hatte, dass die Werftarbeiter in Gdańsk in einen Streik getreten waren, packte sie ihren Koffer Hals über Kopf und nahm das nächstbeste Flugzeug nach Warschau. Sie dachte tatsächlich, ihre Eltern, die in Olsztyn hohe Tiere der Partei waren, würden es befürworten, die Streikführer der aufgebrachten Arbeiter an die Wand stellen und erschießen zu lassen, um die bevorstehende Revolution schon im Keim zu ersticken. Kuba nahm mit Marta an den Streiks bis zum bitteren Ende teil, sie entführte ihn sogar einmal nach Łódź, in die wichtigste  Bastion des Widerstandes und der studentischen Unabhängigkeitsbewegung. Als das Kriegsrecht in der Nacht des 13. Dezember 1981 verhängt und Kuba von der Miliz gesucht wurde, gelang es ihm, sich im Keller des Studentenheimes zu verstecken und später nach Wilimy durchzuschlagen: Marta krümmten sie kein Haar – wegen ihrer Eltern. Ein Landsmann, der Schuster Kronek aus Biskupiec, der mit den Einkäufen für seine Werkstatt nach Hause fuhr, erspähte Kuba auf der Straße und nahm ihn in seinem Pkw mit zurück nach Wilimy. Allerdings hatte Kuba auf Geheiß von Herrn Kronek einen Geisteskranken mimen müssen: »Du bist mein Neffe und befindest dich bei mir in der Ausbildung!«, sagte sein Erretter – so durften sie die zahlreichen Ausweiskontrollen der Armee unverdächtig passieren, obwohl Herr Kronek nur einen Passierschein vorweisen konnte. Einen Geisteskranken zu mimen, war Kuba nicht schwer gefallen – schließlich hauste in seinem Bauch immer noch die verirrte Seele seines Bruders, und wenn Kuba sie sprechen ließ, was er äußerst selten tat, hörte man entweder die heisere, stotternde Stimme eines im Sterben liegenden Greises oder die eines kleinen aufgeweckten Jungen. Als Bauchredner hätte er im Fernsehen oder in einem Varieté-Theater auftreten können.
Kurz vor Weihnachten kam nach Wilimy auch Marta, die eigentlich von ihren Eltern in Olsztyn erwartet wurde. Sie benachrichtigten die Miliz, ihre Tochter sei mit einem gefährlichen Gewerkschaftler durchgebrannt, sie sei mit ihm in einem Dorf des Groß-Ramsauer Forstes, des Dadajwaldes, untergetaucht – ein guter Tipp, mitten im Kriegsrecht! Die Miliz reagierte postwendend. In der Silvesternacht 1981 schickten die Verantwortlichen eine Streife, eine erprobte Spezialeinheit an den Dadajsee. Oma Renia öffnete zwei Offizieren der Staatssicherheit und zwei bellenden und Zähne fletschenden Schäferhunden die Tür: »Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes! Kinder! Lauft weg! Die wollen euch einbuchten!«, schrie sie über das ganze Haus. »W imię Ojca i Syna i Ducha Świętego!«  Marta und ihr Gewerkschaftler schnappten sich ihre Jacken und Schuhe und rannten durch die Hintertür in den  Obst- und Gemüsegarten. Die beiden Studenten wollten sich nach Najdymowo durchschlagen, um in der dortigen Fischerei den firmeneigenen Geländewagen Tarpan zu stehlen. Es war ihnen sonnenklar, dass ihre Flucht einer Verzweiflungstat glich. Wohin denn hätten sie mit dem Geländewagen fahren sollen? Einen Ort, an dem sie sicher gewesen wären, gab es in ihrem Land damals nicht. Aber Marta ertrank, als sie in jener Silvesternacht mit Kuba über den zugefrorenen Dadajsee floh. Wer würde es ihm glauben, dass diese Geschichte nichts als die Wahrheit war?
Die beiden Offiziere der Staatssicherheit gaben die Verfolgungsjagd auf und nahmen Kuba erst am nächsten Morgen gefangen. Sie taten so, als hätte der Unfall auf dem Eis nicht stattgefunden und als wären sie nicht dabei gewesen.
Martas Eltern hatten durch ihre Denunziation das Todesurteil für ihre Tochter unterschrieben – ohne es zu wissen. Dass sie im dritten Monat schwanger war, erfuhr Kuba erst nach der Autopsie. Martas Eltern unterstellten ihm, er habe ihre Tochter ermordet, und obwohl jeder wusste, was der jungen Frau zuge-stoßen war, gelang es ihnen, die Autopsie zu erzwingen. Für eine Anklage wegen Mordes konnten sie jedoch die Staatsanwaltschaft nicht erwärmen. Ihre Bemühungen scheiterten, und es war Kuba damals sofort klar geworden, dass sie durch diese abstruse Anschuldigung nur ihr Gewissen hatten reinwaschen wollen.

Nach Martas Tod hatte Kuba eine sechsmonatige Strafe im Internierungslager in Iława absitzen müssen. Im Sommer 1982 entließ man ihn in die Freiheit, und die Regierung riet dem widerspenstigen Studenten, er möge fliehen, sein Land für immer verlassen. Als ehemaliger Dissident hätte er in jedem westlichen Staat um Asyl bitten können, doch er entschied sich für den einfachsten Weg und ließ sich zunächst in Westberlin nieder, wo er sein unterbrochenes Informatikstudium fortsetzte. Schließlich war sein ostpreußischer Vater immer noch ein Bürger des Dritten Reiches, und seinem Sohn konnte ohne Probleme der grüne Aussiedlerausweis ausgestellt werden.

 

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