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Die Zeit der Stinte

Kreiszeitung, 24.12.2008

Die Unruhe des Emigranten

Reisen und Schreibwege zwischen Orten und Zeiten: Ein Porträt des Schriftstellers Artur Becker

Von Rainer Beßling

Artur Becker wohnt in Verden an der Aller, schräg gegenüber dem Bahnhof. Reizvoll kann man die Lage nicht nennen, aber praktisch. Sie kommt der Lebensführung des Schriftstellers nahe. In 30 Minuten ist er in seiner zweiten Heimat Bremen, in seine erste, nach Masuren, braucht er etwas länger. Von Verden aus hat er in den vergangenen Monaten auch häufiger den Zug nach Frankfurt am Main genommen. Dort sitzt sein neuer Verleger Rainer Weiss, der ehemalige Suhrkamp-Lektor.
Artur Beckers neuer Roman »Wodka und Messer«, bei Weissbooks erschienen, hat viel Beachtung bei der Kritik gefunden und auch beim Lesepublikum, das sich der produktive Autor inzwischen erschrieben hat. Die Kritiken reichen von der Lobeshymne bis zum unverblümten Verriss. Becker sieht dies als Bestätigung: Er ist als Schriftsteller angekommen, er polarisiert, die Rezensenten feiern längst nicht mehr gutwillig einen Newcomer, sondern nehmen kritisch den »neuen Becker« unter die Lupe. Die Robert Bosch Stiftung hat den gebürtigen Polen mit dem Adelbert-von-Chamisso-Preis 2009 ausgezeichnet.
Der »neue Becker« nimmt den Faden der vorangegangenen Bücher auf. Es geht um den Transit zwischen Orten und Zeiten, um Wiederbegegnungen und Erinnerungen, um die Reise, die jemand unternimmt und umtreibt, der seine Heimat verlassen hat, um ein Unterwegssein, das letztlich alle betrifft, die einige Lebensjahre und Wechselfälle hinter sich haben. Es wird viel gestorben in diesem dickleibigen Epos, doch die Figuren agieren blutvoll, die Geschichten sind prall, die Bilder plastisch. Die Landschaft, genauer ein See, zieht die Menschen geradezu magisch ins Jenseits. Die Präsenz der Toten und Lebenden vermischt sich, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft fließen ineinander, ebenso wie Erinnerung und aktuelle Begegnung. Am Ende weiß man nicht, was das Dasein und Bewusstsein stärker, was das Bild von einer Landschaft mehr prägt, der Tod oder das Leben.
Am 15. März 1985 ist Artur Becker nach Deutschland gekommen. Er war damals 16. Seine Eltern holten ihn in Hannover ab. Sie hatten Polen bereits früher verlassen, mehr aus politischen als aus wirtschaftlichen Gründen. Väterlicherseits ist die Familie deutschstämmig, also könnte man von »Spätaussiedlern« sprechen. Becker als bekennender Europäer mag das Wort wegen seines revisionistischen Beigeschmacks aber nicht sonderlich. Der Vater hatte vor der Emigration Deutschland schon einige Male besucht. Nach dem ersten Besuch war das Deutschland-Bild der Familie erheblich durcheinander geraten. Dort lebten also nicht Nazis, sondern Menschen, gute und böse, Menschen, die nach der Erfahrung des Vaters respektvoll waren und ein Bewusstsein ihrer historischen Schuld zeigten?
Artur Becker war auf seine Ausreise in den Westen gut vorbereitet. Er kannte als Jugendlicher die angesagte Rockmusik. Die war im Polen der 70er und 80er Jahre genauso zu haben wie aktuelle westliche oder lateinamerikanische Literatur. Russische Schriftsteller lernten Polnisch, um diese Bücher lesen zu können. Das kommunistische Polen war im Gegensatz zur ehemaligen DDR ein vergleichsweise liberales Land mit ausgeprägter Kultur. Die Dissidenten schrieben in den Gefängnissen ihre antikommunistischen Bücher, für Hohenschönhausen schwer vorstellbar.
In Gesprächen mit Besuchern aus dem Westen war Artur Becker bewusst geworden, dass sich die Probleme und Themen hier wie dort nicht wesentlich unterschieden: Wo bekomme ich die neue Jeans her, wie teuer ist die neue Genesis-LP? Allerdings ging Deutschland schon der Ruf eines Paradieses voran, eines Schlaraffenlandes. Manches von der Überfluss-Legende hat sich auch bestätigt. Allerdings weiß Becker bis heute nicht, wozu man 30 Sorten Salami braucht. Eine Mailänder, eine Mettwurst aus der Region und eine ungarische würden doch reichen.
Der jugendliche Artur Becker kam also informiert, aufgeschlossen und neugierig nach Deutschland, und er kam als junger Lyriker, dessen Gedichte bereits im Rundfunk gesendet, in Anthologien und großen Zeitungen veröffentlicht worden waren. Sie handeln von der Liebe, der Autor hatte sich gerade bis über beide Ohren in ein Mädchen verguckt, von existenziellen Themen wie dem Tod, sie umspielen Klassikerzitate, und sie sind von der Wut geprägt, die Jugendliche vorzugsweise entwickeln. Vom Aufbegehren gegen die Gesellschaft beispielsweise, was in einem autoritären, repressiven Regime nicht sonderlich schwer fällt.
Dass aus dem jungen polnischen Poeten einmal ein deutschsprachiger Prosaautor werden würde, hatte sich Becker damals kaum vorstellen können. Er macht 1989 Abitur und studiert von 1990 bis 1997 in Bremen Germanistik. So lange wie es braucht, die ersten Schreibversuche in die richtigen Bahnen zu lenken, so lange braucht der Autor, sich im Deutschen als seinem literarischen Werkzeug und Ausdrucksmittel zurechtzufinden. Für einen Schriftsteller, der in einer fremden Sprache schreibt, wird dieser Prozess nie abgeschlossen sein.
Noch vor fünf, sechs Jahren hatte Becker die Frage, ob er inzwischen in der deutschen Sprache seine Heimat gefunden habe, rasch bejaht. Inzwischen ist er vorsichtiger geworden. Er liebe die deutsche Sprache, und da er nicht aus Hass, sondern aus Liebe schreibe, sei ihm die deutsche Sprache wichtig. Doch Sprache sei nicht Heimat, auch die polnische nicht: »Sie sehen ja, wie schnell man eine Sprache wechseln kann.« Heimat ist dort, wo die Häuser der Familien und der Freunde stehen, der Boden, die Landschaft, das ist das, was den Menschen ausmacht.
Wenn Becker über das Schreiben und über die Sprache redet, tut er dies sehr differenziert. Er gehört nicht zu den Autoren, die sich spontan an den Schreibtisch setzen und aus dem schöpfen, was sich da so entwickelt. Er legt detaillierte Exposés an, befragt sich selbstkritisch, was er erzählen will, formt Figuren, legt deren Entwicklung und Haltung fest.
Diese Hausaufgaben arbeitet er dann ab und ist immer wieder angenehm überrascht, wenn und wie seine Protagonisten ein Eigenleben entwickeln. So kommen nach jedem Buch zur bestehenden Stoffsammlung neue Figuren und Geschichten hinzu, die »erzählt werden müssen«.
In den kommenden beiden Büchern, einem kürzeren und einem episch breiten, wird es erneut um Motive aus der Heimat und um das Thema Exil gehen. In dem kurzen widmet sich der Autor seinem Geburtsort Bartoszyce, und zwar einer Schusterwerkstatt, die bislang eher ausgeblendet worden ist. Das Motiv ist vielversprechend, ein Schuster ist wie ein Arzt, er kennt alle Schuhe des Dorfes, diese tragen ihre Besitzer wie eine zweite Haut und mit ihren Falten ganz individuelle Spuren ihres Gebrauchs. Im zweiten, umfangreicheren Buch geht es um polnische Emigranten in Deutschland, nicht als Schelmenroman wie in »Das Herz von Chopin«, in dem Becker die Geschichten und Erlebnisse zweier befreundeter polnischer Autohändler literarisch veredelt hat, sondern um integrierte Polen, um Menschen wie ihn und seine Ehefrau, die hier wählen und so die Geschicke des Landes mitbestimmen.
Becker sieht in seiner Prosa einen Auftrag und eine Verantwortung gegenüber den Geschichten. Die Anstöße zu seinen Büchern sind immer real, Komposition und Konstruktion sind die Instrumente, die Wirklichkeitserfahrung zu übersetzen und zu organisieren, um aus dem individuellen Erlebnis ein universelles Erleben zu machen. Auch gegenüber der Sprache spürt Becker diese Verantwortung: Sprache ist eine Waffe und zugleich zerbrechlich, sie kann vernichten und aufbauen, sie verschleiert und schließt auf.
Der Transit, die Reise, das Unterwegssein, das den beherrscht gefügten Büchern Beckers eine innere Unruhe einpflanzt, wird wohl noch länger das Thema des Wahl-Verdeners sein. Becker schätzt seine Wohnung als Refugium für ungestörtes Schreiben - »in Berlin hätte ich ,Wodka und Messer' nicht schreiben können« - und trägt seinen Rang als prominentester Literat der Region nicht in die kleinstädtische und ländliche Öffentlichkeit. Immerhin habe die Reiterstadt einen Genius loci, heißt doch Verden auf Norwegisch »Welt« und der Fluss an Beckers Geburtsort Alle.
So viele Parallelen es auch zwischen seiner neuen und der alten Heimat geben mag, ein Unterschied ist fundamental: Hier im protestantischen Land wird der Tod versteckt, dabei ist er doch die folgenreichste Tatsache und der beste Lehrmeister des Lebens. Was passiert dann? Wie gut sind wir vorbereitet? Dazu haben nicht nur die Religion sondern auch Dichter, Philosophen und Naturwissenschaftler eine Menge zu sagen. Becker respektiert zwar Atheisten, aber versteht nicht diejenigen, die vorliegende Antworten auf die Jenseits-Frage ignorieren. Er stößt uns mit seinen lebensprallen Geschichten und Figuren auf diesen abgehängten Horizont. Seine Bücher versöhnen den Leser mit dem Verdrängten.


 

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