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Die Zeit der Stinte

Die Presse, 28.11.2008

Lied vom Ertrinken

Landschaft, Eros, Trauma und Traum. Sehnsucht, Intrige, Geschäft. Alltag, Schnaps und Kindheit. Was für ein Erzähler! Was für eine Geschichte! »Wodka und Messer«: über Artur Beckers großen vielstimmigen Masuren-Roman.

Von Barbara Bongartz

Was für ein Roman! Was für ein Erzähler! Was für eine unglaubliche Geschichte! Wovon handelt sie? Wer spricht? Zu welcher Zeit? An welchem Ort? – Getrieben von einer diffusen Sehnsucht, macht sich ein Mann auf den Weg ins Dorf seiner Kindheit. Dort begegnet er einer Frau, die seiner toten Geliebten erschreckend ähnlich sieht. Die Geschichte einer nicht enden wollenden Liebe? Orchestriert wird der Plot von einem monströsen Aufwand an Personal. So die Skizze des Kerngeschehens. Doch das ist bei Weitem nicht der Roman. Der Versuch, diesen linear wiederzugeben, scheitert an dem, was ihn außergewöhnlich macht: seine netzartig übereinanderliegenden Schichten, in denen sich große und kleine Themen verfangen. Grenzgang vom einen zum anderen Land und vom Diesseits ins Jenseits. Landschaft, Eros, Trauma und Traum. Sehnsucht, Intrige, Geschäft. Alltag, Schnaps und so weiter. Angetrieben wird der vielstimmige Gesang vom Beweggrund aller Gründe, dessen Ursprung die große Louise Bourgeois zu Anfang ihrer Notizen benennt: »Der schöpferische Impuls ist in meiner Kindheit zu suchen; meine Kindheit hat nie ihre magische Kraft, ihr geheimnisvolles Dunkel, ihre Dramatik verloren.«
Die Rede ist hier von Artur Beckers Roman »Wodka und Messer. Lied vom Ertrinken«, einem Roman, der anschaulich ist wie ein Bild und physisch präsent wie ein Ding, etwas, was man ansehen und anfassen kann, ein eigenes, aus vielen Ebenen bestehendes Universum. In diesem Kosmos leuchten ebenso zärtlich wie gewaltsam die Spuren einer mythischen Kindheit noch einmal auf, um dann in der Erkenntnis des Erwachsenen zu versickern: Man will zurück, aber es geht nicht mehr.
Das Themenarsenal wird auf banalem Terrain abgehandelt. Gegenwartsgeschehen in einem polnischen Dorf. Denkt man zunächst. Dann stellt man fest, dass man auf einem philosophischen Zwischenboden steht, unsicher, was über, was unter einem geschieht, zur gleichen Zeit; oder geschah, zu anderen Zeiten, aber gleichzeitig wieder sichtbar wird. Wohin ist man lesend geraten? Du glaubst nur an das, was du mit Worten beschreiben kannst, sagt der Greis Kasimierz zu Kuba Dernicki, der Hauptfigur des Romans. Damit könnte er auch den Verfasser meinen. Worte, die, aus Liedern kommend, zu Bildern werden, aus denen Bekenntnisse entstehen. Beschwörungen. Auf Leben und Tod. Formeln nicht nur von dieser Welt. Ein Pandämonium eröffnet sich vor den Augen des unvorbereiteten Lesers, der zunächst nicht genau weiß, wohin die Reise Kubas geht. Des Geliebten Kuba. Des Statistikers Kuba. Des Ehemanns Kuba. Des Sohnes Kuba, dessen Vater im Suff aus Eifersucht die Mutter erstach. Des Jungen Kuba, der einst mit seinem Freund Leszek im Wald Hitlers Wolfsschanze nachbauen wollte.
Und wer ist dieser Kuba? Kuba, der Bauchredner, ist, wie alle Personen in seinem Kindheitsdorf, viele. Ihre Lebensgeschichten, Wünsche, Sehnsüchte, Machenschaften sind eng verwoben mit Kubas Leben, obwohl der lange nicht mehr an dem Ort des Romangeschehens war. Das beginnt mit seiner Reise.
Reise: zurück ins Kindheitsdorf
Wohin die Reise geht? Nach Hause. Über Land. Genauer gesagt: über die Autobahn nach Masuren, in jenes unscharf definierte Gebiet, das als Teil von Ostpreußen im Mittelalter unter der Hoheit des Deutschen Ordens stand und später von den Lutheranern vereinnahmt wurde. Heute gehört das mit martialischer Geschichte und merkwürdigen Geschichten aufgeladene Seengebiet zu Polen. Kuba, seinem Dorf eigentlich entwachsen, entfleucht, emigriert, trug es zeit seines Lebens in sich wie in seiner Kindheit den eigenen Zwilling im Bauch. Auch das ist eine merkwürdige Geschichte. Irgendwann in den Achtzigern floh Kuba aus Polen und verlor auf der Flucht über den Dadajsee seine geliebte Marta. Sie ertrank. Auch sie trug etwas in sich. Das gemeinsame Kind.
Die ertrinkende Marta: Mit ihr hebt die monumentale Erzählung an, noch bevor die Handlung selbst einsetzt. Es ist, als löse die Stimme der toten Geliebten Kubas Reise aus. Die Tote ruft ihn. Sie sehnt sich nach ihm. »Gestern träumte ich wieder, mein Liebster.« Weil Marta träumt, so scheint es, macht Kuba, der in Westdeutschland glücklich Assimilierte, sich auf den Weg. Er reist zurück. In sein Kinderland, an dessen grobe, zuweilen archaisch anmutende Gepflogenheiten er sich nur dunkel erinnert wie auch an das rohe, von Suff und Tod durchsetzte Geschehen und an die revolutionäre Geschichte.
Kuba weiß nicht, dass Marta ihn gerufen hat. Er denkt nicht einmal daran, die alten Geschichten aufleben zu lassen, obwohl er sie nie ganz vergessen hat. Auch die alten Gewohnheiten sind ihm nicht mehr recht. Er will nicht saufen, wie das die Männer seiner Heimat tun, und das Messer, mit dem sein Vater um sich stach, nimmt er nur mit, um es im ebenso mythischen wie mystischen Dadajsee zu versenken. Aber dann heißt es in der Mitte des Romans. »Es fiel ihm immer schwerer zu verstehen, wie er all die langen Jahre in Deutschland ohne Marta hatte leben können. Ich soll verheiratet sein, zwei Kinder haben und in einem Rechenzentrum arbeiten? Er hatte den alten Kuba Dernicki in der Nacht, nachdem er Marta mit dem toten Baby auf dem Schoß begegnet war, ins Niemandsland verbannt, das sich hinter der weißen Wand der Bewusstlosigkeit befand. Dort musste jetzt dieser alte Kuba wohnen und dahinsiechen.«
Nichts begreift man zunächst von den exzentrischen Gestalten, die plötzlich auftauchen, seltsame Dinge erzählen und verschwinden. Die sich keiner logischen Handlung zuordnen lassen. Da ist Tante Ala, die Kuba großgezogen hat und mit einem manchmal lebensmüden Ukrainer in wilder Ehe lebt. Der schon erwähnte Kasimierz kommt als pensionierter Pfarrer daher. Aber was er sagt und tut, gleicht eher dem Gehabe eines russischen Starzen, einem jener Schamanen, die vom Volk wie Halbgötter verehrt werden, da sie Krankheiten auf dubiose Art zu heilen verstehen. Ist er ein Seher, der Zugang zum Reich der Toten hat? Hat er ein Bataillon unehelicher Kinder in die Welt gesetzt, von denen eines, die Hoteldirektorin Justyna, die Reinkarnation der ertrunkenen Marta ist? Das alles geht weder mit rechten, noch mit realen Dingen zu. In jedem Fall ist Kasimierz das Spiegelbild eines weiteren großen Themas des Romans: des Schimmers des Wahren durch die Gaze der Illusion.
Die Abgründe der Figuren, die nicht alle von dieser Welt zu sein scheinen, sich allerdings sehr hand- und fußfest in ihr bewegen, sofern sie nicht besoffen sind, machen das Geschehen zu einer flirrenden Abfolge von Ereignissen. Ihr Leben beginnt irgendwo in einem Dunkel und kreuzt sich mit dem eines anderen, wobei jegliche Identität zweifelhaft bleibt. Marta und ihre Reinkarnation Justyna, Maciek und Eugeniusz sind einige von ihnen. Allerdings sind die Figuren bei Weitem nicht die einzigen Personen in diesem Universum, zu dem das Dorf Wilimy am unersättlichen Dadajsee wird. Wie die agierenden Menschen Grenzgänger sind, so sind Orte, Dinge, Fragmente Grenzgänger zwischen personalem Sein und unpersonalem Zustand. Der See hat Augen. Ein Oger ist er auch. Er hat eigene Gesetze. Die bekannten Kategorien sind aufgelöst, und man tut gut daran, nicht zu meinen, man wüsste es besser.
Gibt es überhaupt Grenzen, fragt der Roman. Und wenn es welche gibt, wie verhalten sie sich zu den sie überschreitenden Wesen? Die Epochen folgen einander nicht. Die Zeiten liegen in Wilimy über- und nebeneinander, unterworfen der Struktur einer stets begehbaren Landschaft. Somit sind die Toten lebendig und die Lebenden tot. Es gibt nicht wirklich eine Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft. Zeit ist Ort. Irgendwo sollte alles, was jemals gewesen war und einst sein würde, gespeichert werden, jedes noch so kleine Detail und Ereignis – nichts durfte verloren gehen, der morgendliche Regen, das dumme Graskauen der Kühe von Tante Ala, Wojteks Flüche, Martas Tod, am Nilufer spielende Fischerkinder im Reich der Pharaonen, Hitlers Geburt und das Bellen eines Straßenköters.
Manchmal reißt ein Netz über oder unter dem derben Geschehen in Wilimy, den unflätigen Reden oder unzüchtigen Anträgen, und es wird nie klar, auf welche Weise der Autor es wieder flickt: so kunstvoll verschlungen das erneut vertäute Garn. Hat Kuba, der längst mit seiner Familie in Deutschland lebt, erwartet, dass er nicht Herr der Lage sein wird? In jedem Fall erliegt er Justynas Ähnlichkeit mit der toten Marta. Aber in diese Liebesgeschichte, die vor Jahrzehnten begann, winden sich Intrigen und Geschäfte, die nahelegen, dass es doch eine Zeit geben könnte in Wilimy: jetzt.
Artur Becker ist selbst ein Grenzgänger zwischen Polen und Deutschland. Wie seine Hauptfigur stammt der Erzähler aus Masuren. Er debütiert 1984 in Polnisch mit ei- nem Lyrikband. Seit 1985 lebt er in Deutschland. 1989 wechselt er seine literarische Sprache und schreibt seitdem auf Deutsch. Mit »Wodka und Messer. Lied vom Ertrinken« hat Artur Becker der masurischen Landschaft und ihren Menschen ein Denkmal gesetzt.
»Bouillon«? – »Fleischbriiieee«!
Seen und Wälder, die ursprüngliche Topografie, die sich ganz offenbar in das Unbewusste des Romanciers eingelassen hat, sind selbst mythisch und üben auf den in sie Eintauchenden einen merkwürdigen Zauber aus. So unendlich und erstaunlich die Erzählungen innerhalb des Romans, so unendlich und erstaunlich die scheinbar bodenlosen glatten Gewässer und die lichten Wälder. Die Menschen, so sagt man, seien bei aller Derbheit und Melancholie nicht ohne Selbstironie, nicht ohne Selbstüberzeugung. Ein alter masurischer Witz schickt eine Frau zum Fotografen. Der rät ihr, »Bouillon« zu sagen, während er die Aufnahme macht, damit ihr breites Grinsen vermieden und ihr Ausdruck eleganter wird. Die Frau stimmt zu. Als der Fotograf auf den Auslöser drückt, sagt sie »Fleischbriiieee«.
Wie der von Becker geschaffene Mythos, in dem die handelnden Personen keine Götter, sondern Säufer, Mörder, Nichtsnutze, Sehnsüchtige, Liebende, Wider- und Doppelgänger sind, sich rundet, sei hier nicht verraten. Die Seitenwege, Abwege, die abwegige Logik, die übereinanderliegenden Geschichten, das ausuferndes Personal, die thematische Vielschichtigkeit, das Mäandern zwischen derbem Stumpfsinn und sensibler Erörterung von Begehren und Schein, Eros und Spiegel – das alles macht den Roman zu einem Irrgarten, den man durchlaufen muss, um an das Wahre zu kommen, folgend dem großen Barocken David Caspar von Lohenstein: »Wie irrt Ihr Sterblichen, die Ihr den Irrbau seht für einen Irrgang an, der Euch nur soll verführen. Wer aber durch den Bau vernünftig irre geht, wird seines Heiles Weg, der Wahrheit Richtschnur finden.« Welch ein Roman!

 

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