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Die Zeit der Stinte

Junge Welt, 15.10.2008

Der Schimmer des Wahren

Grenzgänger zwischen Polen und Deutschland:
Artur Becker webt feine Netze, die sich über den banalen Alltag legen

Von Barbara Bongartz

Was für ein Roman! Was für ein Erzähler! Was für eine unglaubliche Geschichte!
Getrieben von einer diffusen Sehnsucht macht sich ein Mann auf den Weg ins Dorf seiner Kindheit. Dort begegnet er einer Frau, die seiner toten Geliebten erschreckend ähnlich sieht. Orchestriert wird der Plot von einem monströsen Aufwand an Personal. So die Skizze des Kerngeschehens. Doch das ist bei weitem nicht der Roman. Der Versuch, diesen linear wiederzugeben, scheitert an dem, was ihn außergewöhnlich macht: seine netzartig übereinander liegenden Schichten, in denen sich große und kleine Themen verfangen. Grenzgang vom einen zum anderen Land und vom Diesseits ins Jenseits. Landschaft, Eros, Trauma und Traum. Sehnsucht, Intrige, Geschäft. Alltag, Schnaps und so weiter. Angetrieben wird der vielstimmige Gesang vom Beweggrund aller Gründe, dessen Ursprung die magische Kraft der Kindheit ist. Die Rede ist hier von Artur Beckers Roman »Wodka und Messer: Lied vom Ertrinken«, einem Roman, der anschaulich ist wie ein Bild und physisch präsent wie ein Ding, etwas, das man ansehen und anfassen kann, ein eigenes, aus vielen Ebenen bestehendes Universum. In diesem Kosmos leuchten ebenso zärtlich wie gewaltsam die vergangenen Spuren noch einmal auf, um dann in der Erkenntnis des Erwachsenen zu versickern: »Man will zurück, aber es geht nicht mehr.«
Das Themenarsenal wird auf banalem Terrain abgehandelt. Gegenwartsgeschehen in einem polnischen Dorf. Denkt man zunächst. Dann stellt man fest, daß man auf einem philosophischen Zwischenboden steht, unsicher, was über, was unter einem geschieht, zur gleichen Zeit; oder geschah, zu anderen Zeiten, aber gleichzeitig wieder sichtbar wird. Wohin ist man lesend geraten? »Du glaubst nur an das, was du mit Worten beschreiben kannst«, sagt der Greis Kasimierz zu Kuba Dernicki, der Hauptfigur des Romans. Damit könnte er auch den Verfasser meinen. Worte, die aus Liedern kommend zu Bildern werden, aus denen Bekenntnisse entstehen. Beschwörungen. Auf Leben und Tod. Formeln nicht nur von dieser Welt. Ein Pandämonium eröffnet sich vor den Augen des unvorbereiteten Lesers, der zunächst nicht genau weiß, wohin die Reise Kubas geht. Des Geliebten Kuba. Des Statistikers Kuba. Des Ehemanns Kuba. Des Sohnes Kuba, dessen Vater im Suff aus Eifersucht die Mutter erstach.
Die Geschichte beginnt mit einer Reise. Über Land. Genauer gesagt über die Autobahn nach Masuren, in jenes unscharf definierte Gebiet, das als Teil von Ostpreußen im Mittelalter unter der Hoheit des Deutschen Ordens stand und später von den Lutheranern vereinnahmt wurde. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs gehört das mit martialischer Geschichte und merkwürdigen Geschichten aufgeladene Seengebiet zu Polen. Kuba, seinem Dorf eigentlich entwachsen, trug es Zeit seines Lebens in sich wie in seiner Kindheit den eigenen Zwilling im Bauch. Auch das ist eine merkwürdige Geschichte. Irgendwann in den Achtzigern floh Kuba aus Polen und verlor auf der Flucht über den Dadajsee seine geliebte Marta. Sie ertrank. Auch sie trug etwas in sich. Das gemeinsame Kind.
Die ertrinkende Marta: mit ihr hebt die monumentale Erzählung an, noch bevor die Handlung selbst einsetzt. Es ist, als löse die Stimme der toten Geliebten Kubas Reise aus. Die Tote ruft ihn. Sie sehnt sich nach ihm. »Gestern träumte ich wieder, mein Liebster…« Weil Marta träumt, so scheint es, macht Kuba, der in Westdeutschland glücklich Assimilierte, sich auf den Weg.
Er weiß nicht, daß Marta ihn gerufen hat. Er denkt nicht einmal daran, die alten Geschichten wieder aufleben zu lassen. Er will nicht saufen, wie das die Männer seiner Heimat tun, und das Messer seines Vaters nimmt er nur mit, um es im Dadajsee zu versenken. Aber dann heißt es in der Mitte des Romans … es fiel ihm immer schwerer zu verstehen, wie er all die langen Jahre in Deutschland ohne Marta hatte leben können … er hatte den alten Kuba Dernicki in der Nacht, nachdem er Marta mit dem toten Baby auf dem Schoß begegnet war, ins Niemandsland verbannt, das sich hinter der weißen Wand der Bewußtlosigkeit befand.
Nichts begreift man zunächst von den exzentrischen Gestalten, die plötzlich auftauchen, seltsame Dinge erzählen und wieder verschwinden. Die sich keiner logischen Handlung zuordnen lassen. Da ist Tante Ala, die Kuba großgezogen hat und mit einem manchmal lebensmüden Ukrainer in wilder Ehe lebt. Der schon erwähnte Kasimierz kommt als pensionierter Pfarrer daher. Aber was er sagt und tut, gleicht eher dem Gehabe eines russischen Starzen, einem jener Schamanen, die vom Volk wie Halbgötter verehrt werden, da sie Krankheiten auf dubiose Art zu heilen verstehen. Kasimierz versteht auf noch dubiosere Art, Geschäfte zu machen, Verbindungen zu knüpfen und Intrigen anzustacheln. Als sei das nicht genug, ist seine Vergangenheit so undurchschaubar wie das Schicksal von Masuren und die Gefräßigkeit des Dadajsees. Ist er Jude? Rabbiner sogar? Oder Jesuit? Ein Klosterbruder, der sich lange Zeit in eine Klausur des überall herrschenden Deutschen Ordens zurückgezogen hatte? Ist er ein Seher, der Zugang zum Reich der Toten hat? Hat er ein Bataillon unehelicher Kinder in die Welt gesetzt, von denen eines, die Hoteldirektorin Justyna, die Reinkarnation der ertrunkenen Marta ist? Oder ist er ein Betrüger? Wie sonst kommt dieser geistliche Würdenträger, dessen Würde mit jeder Seite zweifelhafter wird, dazu, Kuba zum Mord anzustiften? In jedem Fall ist Kasimierz das Spiegelbild eines weiteren großen Themas des Romans: der Schimmer des Wahren durch die Gaze der Illusion.
Die Abgründe der Figuren, die nicht alle von dieser Welt zu sein scheinen, sich allerdings sehr hand- und fußfest in ihr bewegen, sofern sie nicht besoffen sind, machen das Geschehen zu einer flirrenden Abfolge von Ereignissen. Ihr Leben beginnt irgendwo in einem Dunkel und kreuzt sich mit dem eines anderen, wobei jegliche Identität zweifelhaft bleibt. Allerdings sind die Figuren bei weitem nicht die einzigen Personen in diesem Universum, zu dem das Dorf Wilimy am unersättlichen Dadajsee wird. Wie die agierenden Menschen Grenzgänger sind, so sind Orte, Dinge, Fragmente Grenzgänger zwischen personalem Sein und unpersonalem Zustand. Der See hat Augen. Aber er ist auch ein Auge, dessen Blick verschlingt. Jenseits dessen ist er Spiegel der Welt. Das Messer befiehlt. Und der Wodka macht sowieso, was er will. Die bekannten Kategorien sind aufgelöst, und man tut gut daran, nicht zu meinen, man wüßte es besser.
Gibt es überhaupt Grenzen, fragt der Roman. Und wenn es welche gibt, wie verhalten sie sich zu den sie überschreitenden Wesen? William Blake, der Künstler, Mystiker, Dichter scheint allgegenwärtig: »If the doors of perception were cleansed, everything would appear to man as it is – infinite«. Die Epochen folgen einander nicht. Die Zeiten liegen in Wilimy über- und nebeneinander, unterworfen der Struktur einer stets begehbaren Landschaft. Somit sind die Toten lebendig und die Lebenden tot. Es gibt nicht wirklich eine Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft. Zeit ist Ort. »Irgendwo sollte alles, was jemals gewesen war und einst sein würde, gespeichert werden, jedes noch so kleine Detail und Ereignis – nichts durfte verloren gehen, der morgendliche Regen, das dumme Graskauen der Kühe von Tante Ala, Wojteks Flüche, Martas Tod, am Nilufer spielende Fischerkinder im Reich der Pharaonen, Hitlers Geburt und das Bellen eines Straßenköters.« Von hier aus scheint es nicht weit zu jenen mythischen Gefilden, wo das »Tal der Tränen« zerfließt. »Die Hölle ist ein Nichts, das sich anmaßt und die Täuschung hervorruft, ein Sein zu sein«, heißt es bei der modernen Mystikerin Simone Weil. Diese spinnwebfeinen Netze religiöser und philosophischer Natur, filigrane Diskurse, deren Sinn und Zweck es ist, die Matrix der Illusion zu kartographieren, legen sich über den banalen Alltag in Wilimy, der geprägt ist von blöden Hochzeiten, versoffenen Zusammenkünften, kurzweiligen Trieben und dem Räuchern der Fische. Manchmal reißt ein Netz über oder unter dem derben Geschehen, den unflätigen Reden oder unzüchtigen Anträgen, und es wird nie klar, auf welche Weise der Autor es wieder flickt: so kunstvoll verschlungen ist das erneut vertäute Garn.
Artur Becker ist selbst ein Grenzgänger zwischen Polen und Deutschland. Wie seine Hauptfigur stammt der Erzähler aus Masuren. Er debütiert 1984 in Polnisch mit einem Lyrikband. In Deutschland lebend, wechselte er seine literarische Sprache. Mit »Wodka und Messer Lied vom Ertrinken« hat Becker der masurischen Landschaft und ihren Menschen ein Denkmal gesetzt. Wie der von Becker geschaffene Mythos, in dem die handelnden Personen keine Götter, sondern Säufer, Mörder, Nichtsnutze, Sehnsüchtige, Liebende, Wider- und Doppelgänger sind, sich rundet, sei hier nicht verraten. Die Seitenwege, Abwege, die abwegige Logik, die übereinanderliegenden Geschichten, das ausufernde Personal, die thematische Vielschichtigkeit, das Mäandern zwischen derbem Stumpfsinn und sensibler Erörterung von Begehren und Schein, Eros und Spiegel: Das alles macht den Roman zu einem Irrgarten, den man durchlaufen muß, um an das Wahre zu kommen, folgend dem großen Barocken David Caspar von Lohenstein: »Wie irrt ihr Sterblichen, die ihr den Irrbau seht für einen Irrgang an, der euch nur soll verführen. Wer aber durch den Bau vernünftig irre geht, wird seines Heiles Weg, der Wahrheit Richtschnur finden.« Welch ein Roman!

 

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