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Die Zeit der Stinte

Frankfurter Allgemeine Zeitung, 15.10.2008

Die Ausgespuckten

Von Martin Halter

Artur Becker, 1967 in Bartoszyce (Bartenstein) geborener Spätaussiedler mit polnischen, deutschen und jüdischen Wurzeln, lebt jetzt schon mehr als die Hälfte seines Lebens in Deutschland; aber ist hier nie so recht angekommen. Becker schreibt deutsch, aber er erzählt noch immer und heute mehr denn je von Seinesgleichen: polnischen Spätaussiedlern mit deutschem Migrationshintergrund, Taugenichtsen, Träumern, Verlierern, die in Deutschland oder auch Kanada Fremde geblieben sind und sich nun zurücksehnen in die Wälder und an die Seen Masurens. Irgendwann werden ihnen Herz und Zunge zu schwer; sie kehren heim ins gelobte Land der schrecklichen Eltern.

Becker ist ein postkommunistischer Melancholiker, ein sentimentaler Rabauke. Er beschwört die glorreichen Zeiten, als leicht reizbare, oft betrunkene junge Männer noch nach Herzenslust raufen und saufen, kleine Maränen und große Frauen angeln, gegen Väter, bigotte Pfaffen und die Esbecja, die polnische Stasi, aufbegehren konnten. Schon im ersten Roman »Der Dadajsee« (1997) reiste ein deutsch-polnischer Autoschieber aus Bremen zurück in die Kindheit, um den versäumten Vatermord post mortem nachzuholen. »Ich kenne diesen See«, sagte damals Onkel Herbert. »Ich habe aus ihm getrunken, ich esse aus ihm, und ich habe ihn niemals verlassen.« Jetzt, einige Romane und Erzählbände später, ist Becker wieder an seinen See, in seine Jugend zurückgekehrt. Sein Stellvertreter heißt diesmal Kuba Dernicki, für seine Freunde auch »Zweibauchnabel« (sein toter Zwillingsbruder steckte lange in seinem Bauch und redet noch jetzt aus ihm): ein Spätaussiedler, der Frau, Kinder und einen Job als Computerspezialist in einem Berliner Schlachthaus vergisst, als der Dadajsee ruft.

Noch eines der kleineren Wunder

Und wieder hat der Heimkehrer noch einige Rechnungen offen. Kuba will endlich seinen Vater, der vor dreißig Jahren seine Mutter und deren Geliebten umbrachte, zur Rede stellen und dann die Tatwaffe – ein sprechendes Messer, das noch jeden Besitzer zu Mord und Totschlag aufhetzen will – im See versenken. Außerdem ist da noch die Sache mit Marta, seiner toten Geliebten. Seit sie, Dissidentin und bei den Unruhen 1981 Streikführerin, auf der Flucht vor ihren Häschern im See ertrank, quält Kuba sich mit Schuldgefühlen. Der Dadajsee ist ein Moloch, grausam wie die Götter der alten Pruzzen und Barten. Er fordert Menschenopfer, aber er kann die Ertrunkenen auch von den Toten auferstehen lassen. In der geheimnisvollen Hoteldirektorin Justyna glaubt Kuba die Reinkarnation Martas wiederzuerkennen.

Das wäre noch eines der kleineren Wunder: In Beckers magischem Realismus können Karpfen, Holzbeine und Seen sprechen. Wo ein schwarzer Bus ohne Fahrer durchs »weiße Niemandsland« fährt, wo Gewässer betrunken und böse werden, können auch Untote, Aliens und alte Mythen wiederbelebt und Biographien wie Kleider gewechselt werden. Aus Henkern werden Opfer, aus Huren Nonnen, aus Partisanen Politiker, aus Spitzeln Businessmänner. Der greise Jesuitenpater, ein erzkatholischer Nekromant und Intrigant, ist in Wahrheit der ewige Jude, der im Warschauer Ghetto gegen die Nationalsozialisten kämpfte; sein Erzfeind, der Wendehals Krol, hetzte Marta in den Tod und stellt ihrer Doppelgängerin noch heute nach.

Alles wie gehabt, nur größer und länger

So erzählt Becker schöne, derbe und manchmal auch nur verworrene Geschichten von Liebe und Freundschaft, Eifersucht und Verrat, Verbrechen und Sühne unter den »von der Weltgeschichte Ausgespuckten« am Ende der Welt. Es sind Schwarzbrenner, Wilderer, Mörder und deutsche Touristen; ein Jugendfreund Kubas ist ein polizeilich gesuchter Waldschrat, ein anderer Ökogärtner. Tante Ala, Kubas einäugige Ziehmutter, hält sich einen schlitzohrigen Ukrainer als Knecht und Geliebten. Wenn Becker die schon halb versunkene Welt nicht vor der Moderne, vor Staat und Kapital aus Warschau und Brüssel schützen kann, will er wenigstens ihr Angedenken in Ehren halten. Niemand stirbt für immer, solange es Dichter gibt: »Der Tod ist eine Erfindung unserer primitiven Wissenschaften, die in einem Zimmer mit zehn Schränken nur zwei davon erkennen können.«

Allerdings kennen wir das alles schon von Becker. Der Heimkehrer zwischen zwei Frauen, zwischen dem spröden Deutschland und seiner Herzensheimat Masuren, zwischen sentimentaler Erinnerung und trostloser postkommunistischer Gegenwart. Männer mit Wodka und Messer, die, überwältigt von ihren Trieben und einer grandiosen Natur, Frauen so heftig und unstet wie Quartalssäufer ihre Flasche lieben: Alles ist wie gehabt, nur größer und länger. Schließlich bringt Becker seinen Roman als Morgengabe in den neuen Weissbooks-Verlag der Suhrkamp-Apostaten Rainer Weiss und Anya Schutzbach ein. Mit »Wodka und Messer« will er schaffen, was ihm bei Hoffmann und Campe nicht gelang: Den Durchbruch vom masurischen Schelm zum seriösen Gegenwartsautor, womöglich zum Enkel von Siegfried Lenz und Günter Grass.

Ein Rumpelfüßler, dem man vieles verzeiht

Becker steht dem Blechtrommler dabei näher als der Zärtlichkeit Suleykens. Wo Lenz der masurischen Seele noch Eigenarten wie »blitzhafte Schläue und schwerfällige Tücke, tapsige Zärtlichkeit und rührende Geduld« zuschreibt, geht Becker deutlich rüder zur Sache. Er schreibt pathetisch, sentimental, aggressiv, jedenfalls mehr aus dem Bauch als aus dem Kopf. Das hat poetische Kraft und Originalität, wirkt aber auch manchmal unbeholfen oder nachlässig: Hölzerne Dialoge, umgangssprachliche Wendungen am falschen Ort; männlich-rustikale Suff- und Sexszenen. Die Charaktere und Handlungsfäden sind, wenigstens für nichtslawische Seelen, eher dünn und schwach motiviert.

Aber am meisten stören die endlosen Wiederholungen beschwörender Mantras. Es bleibt Beckers Geheimnis, warum seine Justyna immer als »die Hoteldirektorin« auftritt und die Sun-Bear-Pianokonzerte Keith Jarretts oder die Bücher von Czeslaw Milosz so oft und unmotiviert wie Markenprodukte in einer geschmierten Fernsehshow in die Kamera gehalten werden. Literarisch ist Becker ein Rumpelfüßler, vielleicht auch nur ein Versteckspieler. Aber er fabuliert so atemlos munter, so unverschämt rabiat drauflos, dass man ihm Stilbrüche, Konstruktionsschwächen und sogar die gelegentliche Geschwätzigkeit verzeiht.

Becker, nebenbei auch Kopf der Jazzband »Les Rabiates«, trägt das Titel-Lied (»Wodka und Messer./ Warmia und Masuren./ Würmer und Menschen!/ Mein Hornissenland!«) mit Schwung und erfrischender Direktheit vor. Die Geschichten aus der alten Heimat sprudeln nur so; die aus der neuen dagegen tröpfeln eher zäh. Deutschland, sagte Becker einmal, sei für ihn als Autor zu »unpoetisch und unerotisch«. So wird Artur Becker noch von den Plötzen, Stinten und toten Augen der masurischen Seen schwärmen, wenn unsere Heimatvertriebenen schon lange gestorben sind. »Die Emigration ist eine Fünfstufenrakete«, ahnt Kuba am Ende freilich auch. »Eins – man flieht; zwei – man gewöhnt sich; drei – man vergisst; vier – man erinnert sich; und fünf – man will zurückkehren, aber es geht nicht mehr.«

 

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