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Die Zeit der Stinte

Rheinischer Merkur, 16.10.2008

Alles sah der See

Von Henriette Ärgerstein

Kann man von einem abgründigen Gewässer besessen sein wie von einem Dämon? Der deutsch-polnische Autor Artur Becker scheint nicht loszukommen vom Dadajsee. Der elf Kilometer lange, legendenumwobene Moränensee, der an einer Stelle fast vierzig Meter tief ist, ist das größte Wasser der Allensteiner Seenplatte im Ermland. Seine Untiefen bergen manch düsteres Geheimnis. Unerlöste Seelen scheinen über dem Wasser zu spuken, überhaupt scheint die ganze Gegend und ihre Menschen verwunschen zu sein. Artur Beckers schriftstellerische Arbeiten sind geprägt von einem ambivalenten Verhältnis zu seiner Heimat, die stets Ausgangs- und Rückkehrort für seine Romanfiguren ist.

Geboren in Bartoszyce (Bartenstein) im Norden der Woiwodschaft Ermland-Masuren, nahe der heutigen Grenze zu Russland, schreibt Becker dieser Gegend eine zentrale Rolle zu. Bereits sein erster Roman trug den Titel »Der Dadajsee« (1997) und handelt von der Rückkehr eines polnischen Gastarbeiters aus Deutschland in heimische Gefilde. In »Onkel Jimmy, die Indianer und ich« (2001) kehren drei nach Kanada ausgewanderte Polen nach dem Zusammenbruch des Kommunismus in ihr Heimatland zurück. Im dritten Roman, »Kino Muza« (2003), pendelt ein in Beckers Geburtsort ansässiger Kinokartenabreißer zwischen Polen und Deutschland und zwei Frauen hin und her. Die starke D-Mark lässt ihn in seiner Heimat zu einem fragwürdigen Helden werden. In seinem erfolgreichen Schelmenroman »Das Herz von Chopin« (2006), in dem ein windiger Autohändler seinem großen Namen gerecht werden muss, thematisiert er erneut einen Grenzgänger zwischen Ost und West. Nun zieht es seinen Helden Kuba Dernicki, aufgewachsen am Dadajsee und in den Achtzigerjahren nach Deutschland übersiedelt, wieder an den magischen Ort am Baltischen Höhenrücken. Er wird dort schließlich begreifen, was sein am eigenen Leibe erfahren hat: »Die Emigration ist eine Fünfstufenrakete. Eins – man flieht; zwei – man gewöhnt sich; drei – man vergisst; vier – man erinnert sich; und fünf – man will zurückkehren, aber es geht nicht mehr.«

Kuba, eigentlich Jakub, arbeitet in Deutschland als Informatiker in einem virtuellen Schlachthaus, einem Rechenzentrum, das die Daten von deutschen Zuchttieren speichert. Er macht sich nach mehr als zwanzig Jahren ohne seine deutsche Frau und die dreizehnjährigen Zwillinge auf den Weg heim nach Masuren, wegen der traumatischen Erlebnisse, die ihm dort widerfuhren: Sein betrunkener Vater Adelbert hatte einst auf Tante Alas Hochzeit den Bräutigam und Kubas Mutter aus Eifersucht erstochen und Tante Ala am Auge verletzt, als sie ihn von der Tat abhalten wollte. Auch Kuba selbst, der bei seiner einäugigen Tante aufwuchs, fühlt sich nicht frei von Schuld. Seine erste und unvergessene Liebe Marta verlor er, als sie zur Zeit der Solidarnosc-Bewegung zusammen wegen politischer Aktivitäten in einer Silvesternacht vor der Staatssicherheit über den gefrorenen Dadajsee flohen und Marta dabei ertrank.

Als Kind bekam Kuba den Beinamen »Zweibauchnabel«, da ihm eine nabelähnliche Operationswunde zurückblieb, als ihm sein Zwillingsbruder Kopernik, den er als versteinerten Fötus im Bauch trug, herausgeschnitten wurde. Zurück in der vertrauten Umgebung, macht sich bei ihm doch Befremden breit. »Sein Land hatte eine neue Haut bekommen, ein neues Sternenzelt aufgeschlagen – eine Anfertigung aus Brüssel; es verliebte sich in das Plastikgeld, in die Macht seiner Ziffern und Buchstaben, die nur für Scanner und Computer einen Sinn ergaben.«

Die Dagebliebenen, »von der Weltgeschichte Ausgespuckten«, zeigen sich ihm verschlossen. Durch Tante Alas Vermittlung lernt Kuba die Hoteldirektorin Justyna kennen und lieben, die ihm wie eine Wiedergängerin von Marta erscheint. An seine Familie in Deutschland denkt er kaum in diesen Tagen. Die Toten erscheinen ihm im Diesseits. Die Macht der Erinnerung beherrscht die Gegenwart: »Die Hoteldirektorin wurde dir von Marta geschickt, damit du endlich lernst, dass der Tod nichts mit dem Leben gemein hat, ja mit dem Leben überhaupt nichts zu tun hat. Der Tod ist eine Erfindung unserer primitiven Wissenschaften, die in einem Zimmer mit zehn Schränken nur zwei davon erkennen können und vielleicht noch zwei Beine eines Tisches, der da auch noch steht.«

Alle Menschen sind in diesem Buch des Verrats schuldig geworden. Bürgermeister Krol, einem Wendehals und Ex- Stasioffizier, der mit Justyna ein Verhältnis hatte, unterstellt Pfarrer Kazimierz, dass er zu Martas Verfolgern gehörte. Der heilende Geistliche tritt als verheimlichter Vater Justynas auf, als ehemaliger Rabbi, der zum Katholizismus konvertierte. Kubas Vater Adelbert hat nach den Morden den Verlust seiner Identität erlitten und spricht von sich nur noch in der dritten Person.

Das sprechende Tatmesser aber fordert immer wieder zu neuerlichem Töten auf. Justyna ist bereit, sich für ihre Liebe zu opfern und zu Marta zu werden für Kuba. Jeder hat einen Verrat begangen, keiner ist ohne Schuld, mit Ausnahme vielleicht von Tante Ala. Dadaj blickt sie alle an. Er hat viele Menschen in seine Tiefe hinabgezogen. Seine Anziehungskraft wird gefürchtet und bewundert. Der See ist das Auge, in dem sich alle spiegeln um den Preis der eigenen Sehkraft. Er ist stummer Spiegel und blinde Projektionsfläche des Protagonisten und seines Schöpfers.

Artur Becker übersiedelte 17-jährig nach Norddeutschland. Er debütierte mit Lyrik in polnischen Zeitschriften. Bereits vier Jahre später wechselte er seine Dichtersprache und begann auf Deutsch zu schreiben. Erlöst wurde er nicht. Masuren ist in seinen Werken literarischer Dreh- und Angelpunkt geworden. Als Sohn deutsch-polnischer Eltern ist er selbst eine Art Zweibauchnabel, denn der Dichter wurde durch eine deutsche und eine polnische Nabelschnur ernährt. Der unterentwickelte Bruderfötus wurde verraten und versteinerte.

Die Geschichte von Zweibauchnabel liest sich als eine Parabel auf einen Poeten, der die Muttersprache aufgab und die des Exillandes annahm. Fortan zerrissen, so scheint es, muss seine Poesie nun den Brückenschlag über den Bruch schaffen, um den Preis thematischer Gebundenheit.

Sehnsucht und Projektion tauchen in das silberne Auge des Sees und entsteigen als Geister und Romanfiguren dem Wasser. »Wodka und Messer« als Synonym für den polnischen Lebensstil, den Becker mit großer Erzählfreude und Raffinesse ausbreitet, ist ein Heimat- und Liebesroman zugleich. Die Figuren sind typisiert, die Nachwendezeit in Polen wird mit Humor geschildert. Beckers Prosa zieht den Leser hinein ins ehemalige Ostpreußen wie der Dadajsee seine Opfer.

 

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