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Der Lippenstift meiner Mutter

Frankfurter Allgemeine Zeitung , 28.6.2011

Ohne Spitznamen lebt es sich nicht gut – Geschichte als Kuriositätenkabinett: Artur Beckers Roman

Von Sabine Doering

Schule, Familie, Freunde - für Fünfzehnjährige bietet die Welt viele Probleme, und vieles davon sind vorhersehbar. Bartek, Artur Beckers fünfzehnjähriger Held, lebt im sozialistischen Masuren, im Jahr drei des polnischen Kriegsrechts. Und der Reiz von »Der Lippenstift meiner Mutter« liegt nicht in dem Berechenbaren, von dem freilich auch recht viel geboten wird. Bartek durchlebt all die bekannten Höhen und Tiefen jugendlicher Sinnsuche. Das heimliche Rauchen und Trinken gehört ebenso dazu wie der kritische Blick auf die eigene Familie, die unbeholfene Suche nach sexuellen Erfahrungen und die Zuflucht zu einer Geliebten, die nur in der Phantasie existiert. Für Bartek ist das Meryl Streep, in die er sich im Kino verliebt hat und an die er lange Monologe richtet. Das alles mag sich im masurischen Winter ähnlich abspielen wie anderswo auf der Welt, und allein für die Schilderung solcher jugendlichen Verwirrungen lohnte sich die Lektüre kaum.
Doch Becker hat seinen Roman mit allerhand skurrilen Gestalten bevölkert, die zum Verwandten- und Freundeskreis seines jugendlichen Helden gehören. So entsteht ein schillerndes Panoptikum kleinstädtischer Lebenswelt. Am unauffälligsten erscheint in dem bunten Treiben noch Barteks kleiner Bruder, wegen seines häufigen Fiebers nur »Quecksilber« genannt, dem die fürsorgliche Liebe der Älteren gilt. Spitznamen charakterisieren auch die anderen Familienmitglieder, zumal Barteks Großväter. Der eine musste in Hitlers Armee kämpfen und verlor in Italien beide Beine, seitdem trägt er den Namen »Monte Cassino« und fährt in seinem Rollstuhl durchs Städtchen. Der andere Großvater ist ein echter Filou, wird wegen seiner Weltläufigkeit nur »Franzose« genannt und gehört zu jenen »osteuropäischen Cowboys«, denen es nach dem Krieg in ihrer ukrainischen Heimat zu eng wurde und die ins neue Polen, nach Masuren zogen: »Er war nach Ostpreußen eher wie ein Abenteurer gekommen, der noch im 18. Jahrhundert lebte, irgendwo in den Canyons des Wilden Westens oder in den Wäldern Alaskas.« Nur dass in der modernen katholisch-kommunistischen Welt dann doch andere Gesetze als unter Goldgräbern gelten. Zum Beispiel hat Opa Franzose einst dem Friseur des Ortes beim Schachspiel eine Liebesnacht mit dessen Frau abgeluchst, was seinen zweifelhaften Ruf weiter verstärkt. Jetzt kehrt er nach langen Jahren zurück ins kleine Dolina Róz, das früher einmal Rosental hieß, und muss seiner Frau, der frommen Olcia, beichten, dass in Danzig eine Tochter von ihm aufwächst, von der seine Familie bislang nichts wusste.
Kein Wunder, dass sich Bartek angesichts solcher familiärer Verwirrungen immer wieder in die Schusterwerkstatt des freundlichen Herrn Lupicki flüchtet und dort den Erzählungen der Schuhmacher lauscht, während er heimlich auf ein Stelldichein mit der attraktiven Tochter des Hauses hofft und ihren debilen Bruder, den verkrüppelten Norbert, mit freundschaft- licher Zuneigung bedenkt. Schließlich wird Bartek, der sich unter vielen kaputten Schuhen mehr zu Hause fühlt als im elterlichen Plattenbau, selbst überall nur das »Schusterkind« genannt.
Angesichts der zahlreichen familiären und erotischen Verwicklungen gerät der Roman streckenweise zur Freakshow, bei der man leicht den Überblick über die vielfältigen Beziehungen verlieren kann. Denn zu Barteks Lebenswelt gehören noch viele weitere bizarre Gestalten: die alte Physiklehrerin Natalja etwa, die einst Oden auf Stalin schrieb, ausschließlich Rot trägt und nun ihre Wohnung durch unzählige Zimmerpflanzen in ein Gewächshaus verwandelt; der ehemalige Mörder Baruch, der nach Verbüßung seiner Strafe im Städtchen lebt und Bartek nach dem Willen seines Vaters von seinen angeblich gefährlichen sexuellen Phantasien heilen soll, oder seine deutsche Oma Hilde, die in Ostpreußen aufgewachsen ist und bis heute kein fehlerfreies Wort auf Polnisch schreiben kann.
Artur Becker, der selbst 1968 in Masuren geboren wurde, als Siebzehnjähriger nach Deutschland kam, seit langem in Niedersachsen lebt und 2009 mit dem Adelbert von Chamisso-Preis ausgezeichnet wurde, hat schon oft über die polnisch-deutsche Nachbarschaft geschrieben. Zuletzt erzählte er in »Wodka und Messer« (2008) von der Rückkehr eines polnischen Aussiedlers in seine masurische Heimat. Diesmal hat Becker ganz offenkundig auf eigene Erlebnisse zurückgegriffen, ohne freilich einen autobiographischen Roman zu schreiben. Immerhin teilt sein junger Held Bartek den Geburtsjahrgang mit seinem Autor und stammt aus derselben Region. Für Bartek ist die deutsche Vergangenheit seiner Heimat allgegenwärtig, und oft genug wundert er sich darüber, dass viele der jetzigen Bewohner des Städtchens in Häusern leben, die sie nicht gebaut haben. Und wer weiß, womöglich gehen in den Kellern dieser alten Gebäude ja noch die Gespenster der deutschen Wehrmachtssoldaten und der viel älteren Ordensritter um?

Von solchen Überlegungen erzählt Becker ohne Ressentiment und ohne unmittelbare politische Botschaft. Die gemeinsame Geschichte von Polen und Deutschen ist für ihn eine Normalität, über die es nicht viele Worte zu verlieren gibt, es sei denn, sie bietet Stoff für neue skurrile Episoden - wie die vom vermeintlichen Spion, dem in die Vereinigten Staaten ausgewanderten Deutschen, der nach Dolina Róz zurückkehrt und verhaftet wird, als er die Orte seiner Kindheit fotografieren will. Zeitgeschichte wird so zu einem Kuriositätenkabinett, gespiegelt in den Augen eines neugierigen und verwirrten Teenagers, der immer wieder über der Frage nach dem Ziel seines jungen Lebens ins Schwanken gerät. Nicht anders schwankt das ganze Buch zwischen verschiedenen Genres, ist teils Entwicklungs-, teils satirischer Heimatroman und mitunter auch einfach nur ein buntes Panorama wunderlicher Zeitgenossen. Heraus kommt ein Pubertätsroman in doppeltem Sinne, ein Buch, dem man etwas mehr Ruhe und die ordnende Hand eines besonnenen Erzählers gewünscht hätte.

 

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