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Der Lippenstift meiner Mutter

Süddeutsche Zeitung, 29.10.2010

Cowboys in der polnischen Provinz

Die postume Lustigkeit Osteuropas in der Ära des Kalten Krieges: Artur Beckers neuer Roman »Der Lippenstift meiner Mutter«

Von Burkhard Müller

Es dürfte im alten Europa des Kalten Krieges kaum einen anderen Ort gegeben haben, der so verschlafen war wie Dolina Róz in den polnischen Masuren. Dort herrscht Kriegsrecht, in den Läden gibt es noch weniger zu kaufen als sowieso schon immer, und um zu ihren Abwechslungen zu kommen, müssen sich die Bewohner schon selbst was einfallen lassen. So zum Beispiel kann aus dem ganz normalen Gang eines Manns (und die Männer müssen hier viel gehen, denn ein Auto hat kaum einer, und auf den öffentlichen Nahverkehr ist kein Verlass) dank eines Tricks das klackernde Stolzieren eines Cowboys werden, wenn er sich nur von dem alten Schuster Lupicki ein dünnes Absatzeisen unter die Sohle nageln lässt.
»Keiner der Männer und heranwachsenden Jungen mochte auf das metallische Klappern auf den Bürgersteigen und Straßen – den hörbaren Beweis für die Männlichkeit oder Gerissenheit eines Kerls – verzichten. Ja selbst die Pfarrer, die Milizionäre und Barteks Lehrer griffen zu diesem altbewährten Köder, der alte Weiber, widerspenstige Töchter und begehrenswerte Schülerinnen vom Gymnasium oder von der Nähschule davon überzeugen sollte, dass sie es nicht mit irgendwelchen dahergelaufenen Hunden zu tun hätten, sondern vielmehr mit echten Helden, die zu jedem Schritt bereit seien – buchstäblich.«
Bartek, der fünfzehnjährige Protagonist dieser Geschichte, gibt sich große Mühe, schon in dieser Macho-Liga mitzuspielen. Zuhause führen Oma Olcia, seine Mutter und deren beide Schwestern das Regiment, bildschöne schwarzhaarige Hexen, die ihren tranigen blonden Ehemännern auf der Nase herumtanzen, nicht zuletzt Barteks Vater, der sich in seiner Trunksucht kaum als männliches Leitbild eignet. Den titelgebenden Lippenstift der Mutter begreift Bartek als phallisches Szepter, an dessen Macht er teilzuhaben strebt, indem er sich heimlich nackt damit bemalt und zu den pseudo-neuguineanischen Klängen von »Ummagumma« wilde Tänze aufführt. Überhaupt sind die Männer, die so angeberisch mit den Absätzen lärmen, in Wirklichkeit ein ziemlich erbärmlicher Haufen. Auszunehmen wäre hier einzig Barteks unvermutet heimkehrender Opa Franzose.
Seine Ankunft bedeutet d a s Ereignis von Dolina Róz; auf diesen Weiberhelden und Herumtreiber haben insgeheim alle gewartet. Dem Friseur Tschossnek gewinnt er beim Schach dessen Frau ab und zögert nicht, von diesem kombinierten Glück im Spiel wie in der Liebe sogleich Gebrauch zu machen.
Bartek ehrt das Himmelsgeschenk eines solchen Opas. Aber seine meiste Zeit verbringt er nach wie vor in der düsteren Werkstatt des Schusters Lupicki, weshalb er allgemein auch bloß »Schusterkind« heißt. In dieser Werkstatt hat auch Barteks anderer Opa sein Auskommen, Monte Cassino, der so genannt wird, weil er als deutscher Soldat an dieser Front beide Beine verlor. Grummelt er, heißt es: Schweig, du nichtsnutziger Soldat einer untergegangenen Armee! Denn für jene Deutschen, die bei der Vertreibung 1945 doch irgendwie im Lande bleiben, gibt es wenig Sympathien, so gern man auch sonst die Care-Pakete mit Bohnenkaffee aus der BRD entgegennimmt.
So ließe es sich immer weiter erzählen aus der verschollenen Welt der polnischen Achtziger, als Partei und Kirche, scheinbar Erzfeinde, sich doch ziemlich einvernehmlich in die nationale Herrschaft geteilt hatten. Die Zeit schien still zu stehen; auch und gerade für das pubertierende Jungvolk, zu dessen Qual. Immer schien es hier Winter zu sein und alle Geschichte vergessen. Staunend hört Bartek, dass Dolina Róz einst Rosenthal hieß.
Es ist ein sehr lebendiges Panorama, das der schon jung übersiedelte polnisch-deutsche Autor Artur Becker entwirft; und er versteht es, gerade aus der Tristesse die buntesten Farben zu destillieren. Anders als vor zwei Jahren in seinem Roman »Wodka und Messer« überbaut er diesmal die Wendung zurück ins Land seiner Jugend nicht mit einem angestrengt konstruierten Plot, sondern erzählt die Dinge in ihrem schlichten linearen Verlauf. Damit liegt Becker ganz im Trend der gegenwärtigen deutschen Literatur. Es wird überall viel besser erinnert als erfunden; und am besten dort, wo der Blick zurück in den europäischen Osten schweift. Aus dieser Himmelsrichtung erneuert und erfrischt sich derzeit der in die Jahre gekommene deutsche Roman. So liest man bei Becker viel Malerisches und weniges, das eigentlich überrascht.
Zum Schluss bleibt, bei allem Vergnügen der Lektüre, ein leiser Zweifel: Ob es wirklich in Ordnung ist, wenn einer das viele Traurige, das zu dieser Gegend, diesem Leben, dieser Zeit doch auch gehört haben muss, so gänzlich bloß als Fundus einer gewissermaßen postumen Lustigkeit benutzt.

 

 

 

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