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Der Dadajsee

GrauZone, 1997

Wassermusik

Von Frank Tiedemann

Alles fließt. Die Strömung im See, Wodka und Bier in Strömen, Wein und vaginales Ejakulat in Betten, aber nur wenig Blut, obwohl viel gestorben wird in Artur Beckers Roman. Der Tod Jan Majers, Fischer in Masuren und Vater der Hauptfigur Jurek, gibt den wundervoll erzählten Einstieg in die Geschichte und auf andere Weise auch ihren skurrilen Abschluß.

Jurek hatte seinen Vater im Leben gehaßt und er haßt ihn im Tod. Der Vater hatte zweifelnd, aber jede vollkommen ausfüllend, seine Rollen gespielt: als nicht liebender Ehemann, als stilvoller Liebhaber (!) einer 23jährigen Hure mit Abitur und als Fischer, dem jeder getötete Fisch leid tut. Jan hatte um die Widersprüchlichkeit seines Tuns gewußt ("er könne also alles werden, aber er sei nie einfach ein Mensch") und dennoch vorausgesetzt, daß sein Sohn eines Tages seinen Platz übernehmen werde. Erschreckende Aussichten für einen 19jährigen Abiturienten im Polen Anfang der 80er Jahre. Jurek verschwindet nach Deutschland, läßt nur in einem einzigen, vorwurfsvollen Brief aus Bremen von sich hören und bekommt schließlich nach zehn Jahren Nachricht vom Tod seines Vaters. Hier beginnt die eigentliche Handlung.

Der Dadajsee ist eine Geschichte über Vater-Sohn-Konflikte. Nicht nur über den speziellen zwischen Jan und Jurek (dafür sind die Vater-Figuren zu stereotyp: Jans Jugendfreund Ludwik ist ebenso ohne Liebe mit der Mutter seines vernachlässigten Sohnes verheiratet und lebt mit einer Prostituierten zusammen), es geht um das ewige Unverständnis zwischen Generationen, um den Versuch der Jungen, sich von ihren Wurzeln (ihren Quellen) zu lösen, aus eigener Kraft vor allem - auch vom Vater-Land  und um die Erkenntnis, daß es dafür immer zu spät ist ("Er warf die Uhr, die Seiko, bis zu 200 Metern wasserdicht, weit weg auf die Weide. Ich will nicht mehr, dachte er sich, es ist immer zu spät, für alles zu spät").

Es geht um Liebe und Schein, um Sehnsüchte, und es geht um Haß. Interessant ist der Blickwinkel aus dem über Liebe erzählt wird: Wir erfahren, wer wen nicht liebt. Jan liebt nicht seine Frau ("zu fett, zu alt, zu häßfich") und, obwohl er das gerne wollte, nicht seine Hure. Ebenso fühlt der Jugendfreund Ludwik. Selbst der Protagonist Jurek geht in Deutschland nur eine Scheinehe wegen der Aufenthaltserlaubnis ein. Aus dieser Verbindung entwickelt sich - und hier mag der Roman zum einzigen Mal unglaubwürdig erscheinen - allmählich mehr: "Sie liebten sich in Wirklichkeit sehr, doch nur in bestimmten Augenblicken, nicht jeden Tag, sie benahmen sich wie Quartalssäufer, sie waren ein bißchen süchtig aber von der Leidenschaft keineswegs verblendet, sondern aufeinander neugierig, ein Zustand des ständigen Neubeginns war es, und nur das zählte. So wollten sie leben und nicht anders." Keine der weiteren Figuren hegt stärkere Zuneigung zu irgendwem oder -was; mit Ausnahme Jan Majers vielleicht ("Die Obstgärten hatte er gemocht. Er hatte sie am meisten von allen Sachen gemocht"). Detailliert zeigt der Erzähler die Haßobjekte: Jan haßt Friedhöfe und abendliches Zähneputzen. Die Hure haßt ihre Arbeit. Ludwik haßt seinen Vater und Chopin. Onkel Herbert haßt den Ausreißer Jurek. Und  das Wichtigste, Jurek haßt seine Eltern und das Leben auf dem polnischen Land.

Die einzige ausgeglichene Person des Romans ist der Bremer Kneipenwirt, Automechaniker und Medikamentenschieber Moogi. Der Grund für seinen Frohmut liegt in der Musik: "Gute Musik sorgt stets für gute Laune." Er liebt Bach und Vivaldi, Miles Davis und Keith Jarrett. Die Geschichte scheint langsamer zu fließen, wenn das Motiv Musik auftaucht, in den Momenten ist sie immer mit Genuß verbunden. Etwa in der Kneipe ("Jedermann soll Spaß haben, mußte er manchmal seinen Gästen erkläten, wenn sie sich über die vielen Musikrichtungen wunderten."), in Polen, wenn die Freunde nach der Ankunft Jureks alte Platten bewundern, und am allerschönsten, als der Vater zitiert wird: "Ein Mensch, der mit dem Boot unterwegs sei und rudere, müsse Musik hören, so Jan oft, und wenn er nichts höre, sei er ganz einfach taub. Man brauche keine Instrumente, so Jan, das Boot und die Ruder und der See, das Wasser seien die einzig wahren Instrumente."

Ein schönes Buch, das Artur Becker uns da ans Herz legt. In einem Fluß wunderbar bildhafter Sprache, gefühlsvoll, todernst, aber mit ganz feiner Komik auf das zwangsläufige Ende hin erzählt, mündet es in zwei vieldeutige Erkenntnisse: Herz-Schwäche ist tödlich, und Tote leben weiter, wenn man ihnen nicht selbst den Kopf abschneidet. Viel zu groß eigentlich, um in der Abgeschiedenheit eines Kleinverlages untergetaucht zu bleiben.

© Frank Tiedemann, GrauZone, 1997

 

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