Home
Prosa
Lyrik
Presse
Links
Varia
Galerie
Vita
Kontakt
Onkel Jimmy, die Indianer und ich

WDR3, 6. Juni 2002

„... im Grunde genommen
der Argonautenzug ...“

Von Tanya Lieske

Aus dem Ausland ist uns das Phänomen gut bekannt. In Indien, in den USA oder auch  Afrika gibt es immer mehr Autoren, die in einer Sprache aufwachsen, und in einer anderen erfolgreiche Romane schreiben. Nicht so in Deutschland. Zwar werden auch bei uns auf der Straße immer mehr Sprachen gesprochen, doch gelingt den wenigsten Einwanderern, in die Schriftsprache zu wechseln oder gar gedruckt zu werden. Zu den wenigen Ausnahmen gehört Artur Becker. Becker wurde 1968 in Polen, in Masuren geboren,  1985 kam er zum Studium nach Bremen. Obwohl er in Polen schon erste Gedichte veröffentlicht hatte, beschloss Becker nach dem Studium in Deutschland zu bleiben:

O-Ton 1 (175):

Um zu überleben als Autor. Weil das ja irgendwann ganz klar war, nach den ersten Publikationen in Polen, die ja sehr früh kamen, ich war 15, 16, 17, und nach den ersten Publikationen in Deutschland, 1990, dass das so nicht geht. Entweder Polnisch oder Deutsch, und außerdem hat sich das im Deutschen immer erfolgreicher entwickelt. Und dann war ganz klar, dass ich das machen muss, was man als Dichter niemals tun darf, nämlich seine Muttersprache zu killen, wahrscheinlich komme ich dafür in die Hölle. (Jetzt spricht der Katholik).

Der Sündenfall machte sich bezahlt. Zwei Romane hat Artur Becker bislang in Deutschland veröffentlicht, drei Gedichtbände und ein Hörspiel. Es verwundert nicht, dass sich das Auswandern und Ankommen, das Heimkehren und die Suche nach den Wurzeln wie ein roter Faden durch sein Werk zieht. Bemerkenswert ist dabei, dass Artur Becker lieber komische und groteske Register zieht, als dass er in Grübeleien verfiele. In dem Wissen, dass die deutsche Sprache ihm sowieso fremd ist, setzt er sich ab von dem Tiefsinn und der Schwere, wie sie in der hiesigen Gegenwartsliteratur gerne zelebriert werden. Sein jüngster Roman, Onkel Jimmy, die Indianer und ich, handelt von drei Menschen, die in dem Dörfchen Rothfließ in Masuren aufgewachsen sind, und die noch vor dem Mauerfall  nach Kanada auswandern, um das große Glück zu suchen. Berichtet wird das Ganze aus der Perspektive des siebzehnjährigen Teofil, der ein sehr unbedarfter Erzähler ist. Ohne Vorurteil erzählt er von den Eskapaden seines Onkels Jimmy, dessen alkoholischen Exzessen und beruflichen Pleiten.

O-Ton 2 (120):

Ich mag solche Erzähler, die sich im Grunde genommen ganz wenig einmischen. D.h. mir ist dieses ganze deutsche Erzählen, das mir während des Germanistikstudiums beigebracht worden ist, angefangen bei Thomas Bernhard und endend bei Peter Handke, so grausig, dass ich gedacht habe, ich brauche einen Ich-Erzähler, der so wenig wie möglich kommentiert.

Die eigentliche Hauptfigur des Romans ist der titelgebende Onkel Jimmy. Onkel Jimmy ist ein Stammtischpole allererster Güte. Er verachtet Franzosen, Juden und Schwarze, er liebt Eisbein, Wodka und Russenwitze. Für Onkel Jimmy ist die ganze Welt ein Komplott  der Kommunisten, Kapitalisten und Arbeitgeber. Jimmy ist der ewige Versager, der mit allem, was er anfängt, grandios und entschlossen scheitert. 

O-Ton 3 (034):

Onkel Jimmy ist kein Phantasieprodukt. Viele polnische Kollegen, die das Buch gelesen haben, mochten diese Gestalt gar nicht, weil sie sagten, na ja, das ist doch dieser klassische Pole, der nur rumbrüllt, der über alles bestimmen möchte wie alle Politiker. Dieses Im-Wohnzimmer-Rumsitzen und Große-Weltpolitik-Machen, das meine ich damit. (...) Trotzdem muss man diese Gestalt irgendwie mögen. (...) Damit ist Jimmy eine universelle Gestalt, die vielleicht mit Komikern wie der Soldat Schwejk oder Don Quixote zu tun hat.

Onkel Jimmy muss man auch deshalb mögen, weil man in ihm eine aussterbende Gattung vor sich hat. Die sprichwörtliche Melancholie der osteuropäischen Seele wird in ihm lebendig. Onkel Jimmy ist ein Getriebener, einer, der ständig unterwegs ist, ohne anzukommen. Würde man ihn fragen, was er in Kanada will, wüsste er wahrscheinlich gar keine Antwort zu geben.

0-Ton 4: (106):

Die Realität ist so, es ist im Grunde genommen unendlich schwierig, ein erfolgreicher Emigrant zu sein. (...) Hier wird im Grund genommen auch eine Kritik an dieser Globalisierung betrieben. Es gibt ja auf dieser Erde immer weniger Plätze, wo man hingehen könnte, und wo man erfolgreich werden kann und wo man glücklich wird, und diese Suche nach dem Paradies wird immer schwieriger. (..) Außerdem, ich glaube, diese Figur verstehe ich so: Eigentlich will er gar nicht reich sein. Er will, dass es ihm schlecht geht, damit er über die Welt schimpfen kann.

Artur Becker hat einen Roman geschrieben, der seinen Lesern verschiedene Benutzeroberflächen bietet. Zuoberst liegen die komödiantischen Episoden, mit denen Jimmy und Teofil, später auch ihre Freunde, die Indianer Chuck und Babyface, ihren Alltag ausstaffieren. Darunter findet man die ins absurde gewendete Heldensage, der Mythos vom Auszug, den zu bestehenden Abenteuern und der Rückkehr des Helden. Im Zentrum des Romans trifft man auf die Feststellung, dass der Mensch, wo immer er ist, sich fragen wird, woher er denn eigentlich kommt. 

O-Ton 5: (083):

Eigentlich wollte ich eine Kindheitsgeschichte schreiben. Es ist aber auch ein Verlust, es ist aber auch (...), und das ist auch symbolisch in diesem Rothfließ enthalten, eine Suche nach dem Paradies. So eine Art Gilgamesch, im Grunde genommen der Argonautenzug.

© Tanya Lieske, Artur Becker

 

[Aktuell] [Prosa] [Lyrik] [Presse] [Links] [Varia] [Galerie] [Vita] [Kontakt]

Copyright © 2017 Artur Becker
Alle Rechte vorbehalten. All Rights reserved