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Onkel Jimmy, die Indianer und ich

DIE WELT, Buchmessebeillage, 08.10.01

Sikspeks, Luegen und Video

Artur Becker erzählt vom Heimweh nach Rothfließ

Von Tanya Lieske

Als Onkel Jimmy und Teofil Baker zurückkommen nach Rothfließ/Masuren kocht Großmutter Genia Hecht mit Pellkartoffeln. Tante Ania ist inzwischen mit dem Gemeindevorsteher Malec ver-heiratet, schließlich hat Jimmy jahrelang nichts von sich hören lassen. Und Tante Sylwia ist immer noch in Rom verschollen. Das Fest für die Heimkehrer wird in Rothfließ mit zuviel Wodka gefeiert, später gibt es eine Rauferei, noch später weiß keiner mehr warum.

Die Zeit scheint stillgestanden zu haben in Rothfließ, das man auch unter dem polnischen Namen Czerwonka kennt. Es ist ein erdachter Ort, und einer, der wohl gerade darum so wirklich wirkt. Artur Becker, 1968 in Masuren geboren und seit 1985 in Deutschland lebend, macht Rothfließ zum Start- und Zielpunkt einer neunjährigen Wanderbewegung.

Mitte der Achtziger brechen drei Gestalten nach Kanada auf: Teofil Baker, der 17-jährige Ich-Erzähler, seine zwei Jahre ältere Freundin Agnes und Onkel Jimmy. Den muss man sich vorstellen als den schwejkschen Prototyp Osteuropas, er trinkt und palavert ohne Unterlass, er lebt, weil er redet, spätestens nach zwei Sätzen versteht man, dass alle es auf Onkel Jimmy abgesehen haben, westliche und östliche Spione, Kommunisten und Kapitalisten, Großmutter Genia, die Wehrmacht und die Regierung Kanadas. Onkel Jimmys Vorstellung vom Glück beruht auf »Sikspeks« Bier, einem Videofilm und einer bequemen Couch, um beides zu konsumieren.

Auch Jimmys Neffe Teofil hat kein klar definiertes Ziel, die Zeit in Kanada steht auf andere Art still. Man gründet eine Exilband, die in einem polnischen Klub auftritt, man versucht sich im Bestattungs-, im Sushi- und im Baugewerbe, und ist am Ende so pleite wie zu Beginn. Einzig Agnes zieht ihre Sache durch, sie lernt Englisch, studiert Medizin und trennt sich von Teofil.

Die Rast- und Ziellosigkeit der beiden Helden ist anrührend und höchst unterhaltsam, weshalb man weiterliest, obwohl die Frage, was Teofil bewegen mag, mit einem solch chaotischen Onkel durchzuhalten, wie ein Damoklesschwert über dem Roman hängt. Etwa zur Mitte, hier beweist Becker ehrzählerisches Taktgefühl, zaubert Teofil das Foto eines Wehrmachtssoldaten hervor, der sein Opa gewesen sein soll, was ihm zwar keiner glaubt, aber klarstellt, dass ein Mensch so nicht sein kann, ohne Vater, ohne Mutter mit dubiosem Opa und fern vor Rothfließ. Teofil steht für jene rastlosen Europäer, die bei den Völkerwanderungen der Neuzeit ihre Wurzeln verloren haben. Und Becker erweist sich als dankenswert nüchterner, humoriger Chronist ihrer Seelenlage.

Bei Onkel Jimmy liegt der Fall anders. Er steht in der Tradition des ewigen Verlierers, er scheitert in der globalisierten Gesellschaft, weil er weder mit Versicherungspolicen noch mit der Börse etwas anzufangen weiß. Nicht umsonst ist sein bester Freund in Kanada ein Indianer, die »Rothaut« Babyface. »Auf dich kann man sich wenigstens verlassen!« sagte Jimmy zu seinem Freund. »Weil du indianischer Staatsbürger bist und nicht lügen kannst.«

Es versteht sich, dass Jimmy die Lüge als Überlebensstrategie heiligt. Nur einmal, zurück in Rothfließ, sagt er sicher die Wahrheit. Danach wird nichts mehr so sein wie es war für Teofil und seinen Onkel Jimmy, den Freund der Indianer. 

© Tanya Lieske

 

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