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Onkel Jimmy, die Indianer und ich

Main-Echo, 3. Juni 2002

Nach Masuren zurückgekehrt

Artur Becker liest in Darmstadt aus dem Roman »Onkel Jimmy, die Indianer und ich«

Von Renate Englert

»Zwischen Torfmooren und sandiger Öde, zwischen verborgenen Seen und Kiefernwäldern«, beschreibt Siegfried Lenz in »So zärtlich war Suleyken« Masuren, jene Region im Nordosten Polens (früher Ostpreußen), mit der man mehr als mit irgendeinem anderen Landstrich Melancholie verbindet. Suleyken ist in Masuren überall und nirgends, steht für endlose Alleen, Störche, Seen, Wälder und Sümpfe. »Ob es dieses Dörfchen gibt oder nicht – entscheidend ist, dass es möglich wäre...«, sagte der aus Ostpreußen stammende Lenz einmal. Auch Arno Surminski (Jahrgang 1934) stammt aus Jäglack, ehemals Ostpreußen. Seine Eltern wurden 1945 verschleppt und kamen in sowjetischen Lagern ums Leben. »Die Reise nach Nikolaiken und andere Erzählungen« ist seine zu Papier gebrachte Erinnerung an die Heimat, die er regelmäßig besucht.

Jetzt gibt es ein neues Suleyken beziehungsweise Nikolaiken. Es heißt Rothfließ und existiert wirklich. Rothfließ, auf polnisch Czerwonka, hat einen kleinen Bahnhof, natürlich einen See, aber auch weniger schmucke Wohnblöcke (»für die Arbeiter der polnischen LPG gebaut«). Rothfließ ist die Heimat von Teofil Baker, dem Ich-Erzähler in Artur Beckers Roman »Onkel Jimmy, die Indianer und ich«.Becker war kürzlich auf Einladung des Deutschen Polen-Instituts zu einer Lesung in Darmstadt.

Der Heimat den Rücken gekehrt

Ihrer masurischen Heimat haben sie alle den Rücken gekehrt: Lenz, 1926 in Lyck geboren, ließ sich nach britischer Kriegsgefangenschaft in Hamburg nieder, Surminski wurde 1947 von einer Familie in Schleswig-Holstein aufgenommen, Becker, 1968 in Bartoszyce geboren, siedelte 1985 nach Bremen über. Und schließlich die Romanhelden. Sie versuchen 1984 ihr Glück in Kanada, schlagen sich mehr schlecht als recht durch und kehren neun Jahre später reumütig und »völlig abgebrannt« nach Masuren zurück.

Dabei hatten Teofil und Jimmy davon geträumt, im Westen das große Geld zu machen. Doch auch in Winnipeg wuchsen Jimmy die Schulden über den Kopf. Teofil, inzwischen 26 Jahre alt, wird von etwas anderem angetrieben. »Ich will wissen, ob es die alten Orte meiner Kindheit noch gibt«, sagt er. Die haben sich freilich verändert, denn das politische System von einst hat keinen Bestand mehr.

Weltmännisch lassen die beiden hin und wieder amerikanische Redewendungen einfließen. Becker hat dafür eine Lautschrift entwickelt, die sich »englisch mit starkem polnischen Akzent« beschreiben lässt. Jimmy legt er zum Beispiel die großspurigen Worte »If ju mejk it dere ju mejk it ewriwer« in den Mund.

Ernüchterndes Ende

Der Roman setzt ein mit der Rückkehr der gescheiterten Auswanderer nach Masuren. In Rückblenden erzählt Becker von den Kanada-Abenteuern und verquickt sie mit masurischen Episoden. Rasch wird dem Leser bewusst, dass Schauplatz der Handlung ein Ort im früheren Ostpreußen ist. Der Gemeindevorsteher bewohnt einen »alten deutschen Hof« und bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs hießen die Bakers Bäcker. Die Namensähnlichkeit mit dem Autor ist kein Zufall: »Ich habe in der Verwandtschaft so einige Kandidaten. Es wäre schade, diese Figuren nicht literarisch zu verarbeiten.«

Das Ende des Romans ist ernüchternd: »Aber selbst den See erkenne ich nicht wieder. Alles ist wüst und leer wie im Winter…«, klagt Teofil. Die einzige Konstante im Leben des jungen Mannes ist der Rockmusiker Frank Zappa. Auf ihn ist Verlass. »Was bleibt, läuft nicht weg.«

Die Verpackung in einen Schelmenroman kann und will nicht darüber hinwegtäuschen, dass Immigration, Flucht und Scheitern die zentralen Themen des Werks sind. »Es mussten 50 Jahre vergehen, bis man über die schrecklichen Dinge schreiben konnte«, so Becker und bestätigt damit, was Surminski kürzlich beklagte. Lange Zeit galt das Thema Vertreibung »als potentiell revanchistisch, wenn nicht gar als nazistisch«, so Surminski. »Die Literaturkritik hat das Thema Vertreibung immer tief gehängt. Das hat viele Schriftsteller entmutigt.« Sogar in Polen herrsche »eine größere Aufgeschlossenheit gegenüber dem Thema« als in Deutschland, so Surminski.

Was aber nicht damit gleichzusetzen ist, dass in Polen die Publikationsbedingungen für Autoren besser wären. Die Schwierigkeiten in Polen bezeichnet Becker als »banal und merkantil«. Als er sich entschieden habe, auf deutsch zu schreiben, »ging es um das Überleben als Autor«, sagt Becker. Und jetzt sei er so in die Sprache hineingewachsen, dass er es sich nicht mehr vorstellen könne, auf polnisch zu schreiben. Beckers aktueller Roman wurde noch nicht ins Polnische übersetzt. »Es ist ein sehr physischer Prozess, warum polnische Literatur nicht auf polnisch erscheint«, formuliert Becker seine Kritik am polnischen Literaturbetrieb.

Proletenhafte Figur gezeichnet

Dennoch hat er ein wenig Angst davor, »Onkel Jimmy, die Indianer und ich« plötzlich als polnische Ausgabe in Händen zu halten. »Ich weiß nicht, was das für ein Gefühl wäre.« Er ist sich sicher: »Die polnischen Kritiker werden mich zerreißen«, und das hinge nicht unbedingt mit Onkel Jimmy zusammen. Es fehle die Gewöhnung an Texte, die auf deutsch erschienen seien, so Becker. Obwohl die Figur des Jimmy ziemlich proletenhaft gezeichnet ist, glaubt Becker nicht, dass die Polen, die er als »sehr verletzliche und sehr stolze Menschen« beschreibt, inhaltliche Vorbehalte hätten.

Einmal mehr wurde deutlich: Es ist noch ein weiter Weg zur Normalität im deutsch-polnischen Verhältnis.

© Renate Englert

 

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