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Interview zu

Interview zu "Die Milchstraße", Erzählungen
September 2002

Mit Artur Becker spricht Mathias Schnitzler

M a t h i a s   S c h n i t z l e r : Ist die Erzählung »Die Reise nach Rothfließ« vor »Onkel Jimmy« entstanden, ist sozusagen eine Vorstufe, es hat manchmal den Anschein? Vielleicht täusche ich mich auch.


A r t u r  B e c k e r : Nein, Sie täuschen sich nicht. »Die Reise nach Rothfließ« war die zündende Idee. Allerdings finde ich diese Erzählung besser als den Roman (der ja sehr positiv von der Kritik aufgenommen wurde), weil die Erzählung poetischer ist,  aber das liegt vielleicht in ihrer Natur »per se« sozusagen.

M. S. : Die Erzählung »Der Pass« gefällt mir außerordentlich gut, eindringlich, melancholisch, ruhig. Irgendjemand sagte in  Klagenfurt, sie könnten nicht innehalten. Hier ist der Gegenbeweis. Insgesamt teilt sich das neue Buch in »ernstere«, auch düstere Geschichten (Der Pass, Das Haus von Frau Prajloska, Morena, Kobra) sowie in schnelle, scheinbar oberflächliche, pointenreiche. Ich finde die ersteren besser. Besonders die kurzen, witzigen Geschichten scheinen mir manchmal etwas unfertig, fast wie Skizzen oder Entwürfe. War diese Zweiteilung im Buch bewusst gewollt, oder hat sich am Ende einfach herausgestellt: ich habe zweierlei Typen von Geschichten, und beide gehören zu mir und ins Buch?

A. B. : Der Vorwurf aus Klagenfurt, insbesondere eines Jurymitglieds, ich sei in meinem vorgelesenen Text zu wenig dramatisch, ist ziemlich idiotisch, zumal ich mit meinen anderen Büchern bewiesen habe, was menschliches Drama auf Erden bedeuten kann. In Klagenfurt habe ich mich dazu nicht geäußert, weil man das nicht macht, nach dem Motto, das gehört sich nicht, und wer es als Autorin oder Autor tut, ist selbst schuld. Die Jurymitglieder kamen mir ziemlich ratlos vor, weil sie mich an die Decke gelobt, aber zum Schluss meinen Text als Genregeschichte mit zu viel Katholizismus und schelmischen Sprüchen entsorgt haben.
Ich wünsche keinem Menschen (auch den Jurymitgliedern aus Klagenfurt nicht), dass er seine Sprache, sein Land und seine geschichtliche Identität verliert, wie das meinen Helden in dem Roman »Onkel Jimmy, die Indianer und ich« passiert, aus dem ich beim Ingeborg Bachmann Wettbewerb 2001 vorgelesen habe: Etwas Tragischeres - gewaltsamen oder krankheitsbedingten Tod ausgenommen - gibt es nicht, alles zu verlieren. Zu dem Genrevorwurf kann ich sagen, dass viele der in Klagenfurt preisgekrönten Texte nur für die halbe Stunde der Lesung vor den Kameras funktionieren. Später, wenn sie in Buchform verpackt werden, stellt sich plötzlich heraus, dass diese Texte zwischen Lyrik und Epik pendeln, dass man sich als Leser fragen muss: Ist das jetzt ein Gedicht oder eine Erzählung oder ein Essay? Und worum geht es hier? Ich bin klassisch erzogen worden, und ich weiß, was Epik oder Lyrik ist, zumal ich beides publiziere. Was Postmoderne ist, weiß niemand – vielleicht nur die Intellektuellen in Polen, die ja solche olympischen Debatten, bei denen sich jeder von seiner besten Seite zeigen kann, über alles lieben. Das dazu.
Mir gefallen beide Erzählformen: »Ich«- und »Er«-Erzähler. Der »Er«-Erzähler ist bei mir immer dunkel und scheinbar ernster als der »Ich«-Erzähler. Vergessen Sie aber nicht, woher diese Färbungen kommen: Der »Er«-Erzähler steht unter starkem, archaischem, biblischem Einfluss, während der »Ich«-Erzähler ein Produkt der Moderne ist (folglich muss er noch lange üben, bis er die Perfektion seines viel älteren Bruders erreicht). Mein neuer Roman, »Kino Muza«, der nächstes Jahr im Herbst veröffentlicht wird, ist zum Beispiel wieder ein »Er«-Erzähler wie mein erster »Der Dadajsee«, der ja Gott sei Dank noch einmal als Taschenbuch bei Droemer in München das Licht der Welt erblicken wird, und zwar etwas mehr als in einem Jahr (Insiderwissen: vom »Dadajsee« gibt es etwa nur noch 100 Exemplare, eine Rarität also!). Ich bin mir aber sicher, dass weder der »Ich«-Erzähler noch der »Er«-Erzähler sich bei mir voneinander diametral unterscheiden, denn beiden liegt eine gemeinsame Quelle zugrunde: Die Leidenschaft, Menschen und ihre Lebensgeschichten zu beschreiben. Im Zusammenhang meiner Prosa wird oft der Name Ernest Hemingway erwähnt. Er mag ja richtig bezüglich der Erzähltechnik wie auch der Arbeitsweise des Autors Artur Becker sein, aber eigentlich müsste viel öfter der Name Isaac Bashevis Singer fallen, der ja aus Polen kommt, auf Jiddisch geschrieben hat und in die USA emigriert ist. Ich denke, dass ich in dieser epischen Tradition von Singer, Stryjkowski, Konwicki usw. aufgewachsen bin und weiter arbeite - als sozusagen osteuropäischer Autor, der im Westen lebt und schreibt: »Das Licht, das im Osten angezündet wird, muss im Westen leuchten«, sagen die Weisen dieser Welt (haha!).

M. S. : Mir ist aufgefallen, dass Namen eine Bedeutung bei Ihnen spielen. (Teofil Baker/Bäcker - Der Passbeamte heißt Witkiewicz - Janek Nacktarsch (ist hier Golodupiec gemeint?). Ist das nur ein kleiner Spaß von Ihnen oder steckt  mehr dahinter? (Ich erinnere mich auch an Lenz’ »Heimatmuseum« - dort sind Namen ja extrem wichtig).

A. B. : Ja, die Namen! Wenn Sie meine Gedichte lesen werden, wird Ihnen auch auffallen, dass die Namen der Personen und Orte eine Bedeutung haben müssen, die wahrscheinlich einen symbolischen Charakter in sich bergen muss. Zu Siegfried Lenz sage ich etwas später - bei der nächsten Frage. Dass ich bewusst Namen für Personen und Orte einsetze, ist nicht nur Spaß, den sich ein Autor machen kann. »Die Reise nach Rothfließ« ist eine Reise wie der Argonautenzug: Die suche nach dem goldenen (roten) Flies. Der Fluss Lyna in der Erzählung »Der Pass« heißt auf Deutsch die Alle (wie das All, Weltall). Marek fährt in »Der Pass« zu Bogdan, der für Marek die letzte Rettung ist: Das Präfix »Bog« bedeutet in slawischen Sprachen Gott. Die Erzählung »Die zwölfte Insel« ist ein astronomisches Spielchen: Die Sumerer glaubten daran, dass es in unserem Sonnensystem 12 Planeten gibt, wovon einer, der 12., ein Wanderplanet sein soll, wobei es an dem in der Story beschriebenen See tatsächlich 12 Inseln gibt. Bartoszyce, die als Stadt in vielen Büchern von mir auftaucht, hat ja das Präfix »bar«, was im Hebräischen - bara - »er-schaffen, machen« bedeutet - so fängt auch die Bibel an, und Bartoszyce ist die Geburtsstadt von Marek: »Im Anfang«, »Bartoszyce - Bresheet« in der Bibel. Solche und ähnliche Dinge lassen sich in allen Texten meiner Bücher entdecken und deuten, aber letztendlich ist die Geschichte an sich, die ein Autor erzählt, am wichtigsten. »Golodupiec« ist schön. Wie im Eden vor dem s.g. Sündenfall.

M. S. : Nervt Sie eigentlich der Vergleich mit Lenz, nur weil Sie auch aus Masuren kommen und nun beim selben Verlag gelandet sind? Das Thema Deutschland-Polen, auch die Nazi-Vergangenheit, kommen ja in der »Milchstraße« oft vor. (Für uns jüngere Leser, ich bin 68 geboren, waren Lenz und Grass und Böll die Feindbilder schlechthin, als wir erwachsen wurden. Heute, auch nach den ermüdenden Langweiligkeiten der Pop-Literatur, ist es ja schon fast wieder cool, Lenz zu lesen. Ich tat das kürzlich, und fand ihn gar nicht mal so schlecht.)

A. B. : Siegfried Lenz, Günter Grass und Heinrich Böll - da bin ich ja in bester Gesellschaft, und Martin Walser fehlt ja nur deswegen, weil er sich selbst im Wege steht: Er droht, an seinem Deutschtum, seinem Nietzsche und seinen privaten Problemen, die er mit Hilfe der Literatur wie im letzten Buch »Tod eines Kritikers« lösen will, zu ersticken.
Ich habe während meines Germanistikstudiums Siegfried Lenz als meine Vaterfigur gefoltert und umgebracht, ohne zu ahnen, dass ich eines Tages im selben Verlag wie er veröffentlichen würde - pah! Sogar in dem Verlag, in dem Heine veröffentlichte, den ich doch in meinem Gedichtband »Der Gesang aus dem Zauberbottich« 1998 zitiere! Zufall? Ich habe keine Ahnung. Siegfried Lenz schätze ich sehr, weil er einer der besten deutschsprachigen Erzähler ist. Ich wurde von meinem Hass auf die Über-Väter geheilt und schreibe nun selbst, wie sie es getan haben in meinem Alter. Der ständige Vergleich mit ihm ist aber in vielen Punkten nur eine Hilfe für den Rezensenten, der sich orientieren will, und meistens werden Klassiker zitiert und herangezogen. Aber in Wahrheit: Was habe ich mit Siegfried Lenz zu tun? Er wurde in Lyck geboren, vor 1945. Ich in Bartoszyce, nicht mehr in Bartenstein, und nach 1945. Er musste fliehen, ich bin mehr oder weniger freiwillig gegangen - zu meinen Eltern, die in der BRD lebten (mein Vater hatte schon einige Unannehmlichkeiten mit SB, dem Staatssicherheitsdienst, seine Motivation, aus Polen zu fliehen, verstehe ich gut; ich selbst wollte doch damals, 1983 - 1985, der größte polnische Dichter werden!, dass ich nicht lache!). Lenz hat als Kind in einem totalitären Staat gelebt, ich auch, nur dass die sozialistische Nation meiner ersten Muttersprache keine internationalen Konzentrationslager gebaut hat. Ich glaube, uns verbindet zwar eine Tragödie des 20. Jahrhunderts, nämlich die des deutschen und russischen Wahnsinns unter Adolf Hitler und Stalin, aber wir haben sie beide anders erlebt. Literarisch ist mir Lenz sehr nah, weil er seine Wurzeln sowohl erzähltechnisch wie auch metaphysisch bei Hemingway und Steinbeck hat, die ja beide auf der Seite des Menschen standen und versuchten, ihn vor Krankheiten des Nihilismus eines Sartre zu retten.

M. S. : Ich weiß, Sie sind ein deutscher Schriftsteller. Trotzdem gibt es »Polnisches« in Ihren Texten: der Humor, das Sich-lustig-machen-über-sich-selbst, die Mischung von Melancholie und schelmischem Draufgängertum. (Kennen Sie Marek Lawrynowicz? Manchmal fühlte ich mich an ihn erinnert). Was halten Sie von den beiden Literaturen zur Zeit, gibt es Bücher, die Ihnen gefallen haben?

A. B. : Dieses »Polnische« ist eine Rettung gegen die deutsche Nüchternheit und gegen den deutschen Ästhetikwahn, der von Nietzsche begründet wurde und der dazu führt, dass die Sprache so sehr im Vordergrund steht, dass Kritiker oft übersehen, dass der Autor leider nichts zu sagen hat: Was nützt mir dann die schöne deutsche Sprache, die in Darmstadt gefeiert wird, bitte schön? Wie gesagt, in mir fließt auch jüdisches Blut aus Lemberg (nicht nur deutsches, polnisches und russisches!). Die Poesie entsteht in der Seele und im Bewusstsein des Menschen, der aufgrund seiner intellektuellen Fähigkeiten die Sprache erst beleben muss: zuerst kommt die Seele, das Unsterbliche, das Göttliche, erst dann die Sprache, das Gehirn, die Chemie, das Handwerk. Ich glaube, Goethe hat es den Deutschen nicht viel anders beibringen wollen, in seinem »Faust«, und selbst Nietzsche hat sich hier nicht viel anders geäußert. Die deutsche Pop-Literatur fügt meiner Meinung nach viel Schaden dem Literaturbetrieb in Deutschland hinzu, weil er ein bisschen blind geworden ist und Dinge hervorbringt, die so kurzlebig sind wie die Pop-Kultur selbst. Ich bin kein Autor, der über andere Kollegen schlecht redet, zumal die meisten Autoren es genauso zu tun pflegen: Klatschen und andere ständig kritisieren. Aber es ist ganz klar, dass ich mit der Pop-Literatur nichts am Hut habe. Und wenn die Pop-Literaten wenigstens angehend so gut wären wie ihr französischer Guru Michel Houellebecq, könnte man ihnen vieles verzeihen ...
Marek Lawrynowicz ist mir selbstverständlich ein Begriff. Neulich hat mich auch der polnische Literaturkritiker Dariusz Nowacki aus Sosnowiec auf diesen Autor hingewiesen, als ich ihm schrieb, wie nun mein neuer Roman heißt, der 2003 im August auf den Markt kommt: »Kino Muza«. »Kino Szpak« (»Kino Star« - wie der Vogel!) heißt auch der angeblich verfilmte Roman von Marek Lawrynowicz, der 2000 erschienen ist. Das ist natürlich sehr interessant. Aber ich bin ich, und Lawrynowicz ist Lawrynowicz. Ich schreibe auf Deutsch - sein Platz ist an der Weichsel, meiner an der Elbe (vor mehr als tausend Jahren lebten im Norden der Elbe auch slawische Stämme ...) Polnische und deutsche Literatur der Neunziger - ein weites Feld! Ich kann nur vielleicht abschließend sagen, dass ich Bücher lese und weiß, was auf beiden Seiten los ist, vielleicht wie kein anderer, denn schließlich gibt es wenige, die sich als Intellektuelle und Autoren in beiden Ländern gut auskennen (Dariusz Muszer aus Hannover, Radek Knapp aus Wien, Dr. Kneip aus Darmstadt usw.).

 

 

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