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Onkel Jimmy, die Indianer und ich

Radio Flora Hannover, 06.11.01 

Der Aufbruch
in den goldenen Westen

Artur Beckers zweiter Roman „Onkel Jimmy, die Indianer und ich“

Von Johannes Schulz

„Im Juni 1989 gewann Solidarność die Parlamentswahlen. Jimmy saß jeden Abend und jede Nacht mit der polnischen Nationalfahne und dem Insektenspray vor dem Fernseher und schaute sich auf allen Sendern sämtliche Nachrichten an. Zusätzlich zeichnete er eine Tabelle in seinen Notizblock und trug jede neue Nachricht aus Polen, gegliedert nach Uhrzeit, Ort, Namen und Ereignis, in winzige Kästchen ein. Babyface war sein Kammerdiener. Er leerte die Aschenbecher aus und holte aus der Küche Bier und etwas zu essen.“

Nein, das hier spielt nicht in Czerwonka, Warschau oder Krakau, jedenfalls nicht 1989 im Sommer, als sich der Ostblock ergibt. Denn Czerwonka ist eigentlich auf der anderen Hälfte der nördlichen Halbkugel, irgendwo an der masurischen Seenplatte und hieß in dunkler ostpreußischer Vorzeit auch schon mal Rothfließ: „Hier herrscht eine Dunkelheit, eine rote Dunkelheit, die wir in Winnipeg lieben, weil sie nie da ist, wenn man sie braucht.“

Und Jimmy heißt normalerweise Onkel Jimmy oder Mr. Koronko oder noch unaussprechlicher Korońrzeź oder wegen seiner roten Flecken, die er sofort nach der Einnahme von Whyskey-Soda bekommt The Toadstool – was soviel heißt wie Fliegenpilz, so jedenfalls haben ihn die Indianer in Winnipeg, Kanada, getauft. Und hier in Winnipeg, in der Wohnung von Babyface, sitzt Onkel Jimmy und räsoniert. Das liegt wohl auch daran, dass sich Onkel Jimmy für den Mittelpunkt der Welt hält und seine Umgebung ständig mit seinen grobschlächtigen Statements nervt. Sein Neffe Teofil, der wahrscheinlich sein Sohn ist und mit Freundin Agens und Onkel Jimmy aus Rothfließ über Frankfurt und New York nach Kanada geflohen ist, weil Onkel Jimmy sonst wegen fortgesetzten Versicherungsbetrugs eingefahren wäre, Teofil ist wohl der Hauptleidtragende von Onkel Jimmys Marotten, denn irgendwie schafft er es einfach nicht, sich von der chaotischen Gegenwart seines Onkels zu befreien. Schicksalsergeben lässt sich der Junge sogar um seine geliebte Agnes bringen, der krachlederne Einfluss Onkel Jimmys reicht einfach weiter.

Der 33-jährige Autor Artur Becker, Sohn polnisch-deutscher Eltern und in Norddeutschland ansässig, knüpft mit seinem zweiten Roman „Onkel Jimmy, die Indianer und ich“ gleich an mehrere große Traditionen der Erzählkunst ein. Zum einen baut die eher beiläufig geschilderte, witzreiche Odyssee ins gelobte Land Kanada das sympathische Bild des ewigen Loosers gleich zweifach aus, zum anderen sind es gerade die spontanen Don Quichotterien des ewig biertrinkenden Onkel Jimmy, die überhaupt etwas bewegen: „Eines Morgens, eben in der Hauptsaison der Hechtjagd, kam Jimmy von der Nachtschicht im Büro zu mir in die Videothek und rief schon von weitem: ’Du sag mal! Was hasten mir für’n Schlüssel gegeben? Kann die Tür gar nicht mehr aufschließen?’ Er stürmte an den Tresen, schubste einen langen, dünnen Indianer mit einer Adlernase und rundem Gesicht, der ganz vorne in der Schlange wartete, zur Seite, und sagte: ’Platz da, Rothaut!’ – ’Moment mal!’ entgegnete der Indianer. ’Ich war zuerst hier!’“

Babyface und sein Adoptivsohn, der Navajo Chuck aus Chicago nehmen die beiden Polen in ihrem Häuschen auf und geraten dadurch ebenfalls in den abwärtsführenden Sog, der von Onkel Jimmys Lebens- und Geschäftsführung ausgeht. Teofil, immer sein großes Vorbild Frank Zappa vor Augen, ist dem dominanten Versager dermaßen hörig, dass er ihm zuliebe sogar auf die große Musikerkarriere verzichtet und statt dessen seine Gitarrenriffs von Onkel Jimmys Countryklängen auf der Yamaha-Orgel unterlegen lässt. Das hat sogar vorübergehend Erfolg, denn die beiden werden wenigstens die Superstars im einzigen polnischen Club Winnipegs. Doch als Onkel Jimmy dort seine Aktivitäten auf das öffentliche Erstellen von Horoskopen für Hochzeitsgesellschaften ausdehnt, ist der Rauschschmiss nur noch eine Frage der Zeit. Wenn Onkel Jimmy säuft, und das tut er fast immer, laufen die Dinge eben schnell aus dem Ruder: ’

So endet denn der Aufbruch in den goldenen Westen irgendwann wieder am Ausgangspunkt, im masurischen Rothfließ, denn die durch Onkel Jimmys dunkle Geschäfte verursachten Schuldenberge machen ein gelegentliches Abtauchen sinnvoll. Artur Beckers erster Roman „Der Dadajsee“ trug dem Autor 1997 den Preis des VDS „Das neue Buch in Niedersachsen und Bremen“ ein, seine Lyrik-Veröffentlichungen sind ebenfalls vielbeachtet und mehrfach ausgezeichnet worden. Die 256 Seiten umfassende fatalistische Rundreise „Onkel Jimmy, die Indianer und ich“ ist soeben im Verlag Hoffmann und Campe erschienen und kostet gebunden 36 DM. Übrigens, Radio Flora hat Artur Becker im Rahmen der Reihe Literasiesta im Frühjahr 2002 zu einer Lesung eingeladen, der genaue Termin wird rechtzeitig bekannt gegeben. 

© Johannes Schulz


 

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