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Onkel Jimmy, die Indianer und ich

Sylter Spiegel, 17.10.2001

Mein Onkel, der (Maul-)Held –
Ein großes Lesevergnügen:
Artur Beckers Roman „Onkel Jimmy, die Indianer und ich“

Von Barbara Kunze

„Die Hauptschuld trage nicht ich. Es waren die Abende, die vielen, nicht enden wollenden Abende, die meinen Onkel und mich bis heute begleiten. Fangen wir einmal an zu diskutieren, entstehen dabei unendliche, namenlose Flüsse! Wir vergessen alles, die Nacht, unsere Jobs, woher wir kommen und was wir in Kanada eigentlich wollen. Wir wachen nicht mit dem Wecker auf, sondern reden so lange, bis der Kühlschrank leer ist: Kein Bier, nichts mehr zu essen, es sind dann nicht einmal zwei Salzgurken zur Hand. Wir reden trotzdem weiter, wir können auch nicht anders, wir machen nichts falsch, denken wir, weil die Welt ohne uns aufhören würde zu existieren, irgendjemand muss doch reden, irgendjemand muss doch streiten.”

Die zwei, die hier so endlos palavern müssen und darüber aber auch rein gar nichts auf die Reihe kriegen, sind Teofil Baker und sein Onkel Jimmy Koronko. Letzterer ist ein Schlitzohr, ein Säufer, ein Hochstapler, ein Freund abstruser Theorien und paranoider Pseudophilosoph und muss dringend aus dem heimatlichen Czerwonka fliehen, wenn er nicht wegen Versicherungsbetrugs im Gefängnis landen will. Also macht er sich auf aus dem sozialistischen Polen nach Kanada und nimmt seinen sechzehnjährigen Neffen und dessen große Liebe, die schöne Agnes, mit. Besser gesagt, die beiden nehmen ihn mit, denn Onkel Jimmy ist eine lebensuntüchtige Klette, ein echter Felsbrocken um den Hals des Neffen, der es nicht über sich bringt, ihn im Stich zu lassen. Im Gegensatz zu Agnes, die sich zielstrebig und ehrgeizig an den Lebensstil im gelobten Land anpasst und schließlich Ärztin wird, ist Teofil mit wenig Realitätssinn gesegnet. Er schlägt sich mit Jimmy zusammen als Musiker in einem polnischen Club, als Gelegenheitsbauarbeiter und Verkäufer in einem Videoladen durch und am Schluss, neun Jahre später, sitzen sie wieder da, wo sie hergekommen sind, auf dem Bahnhof von Czerwonka, auf der Flucht vor Onkel Jimmys Schuldenberg. Das Ende des Romans ist gleichzeitig sein Anfang, und in dem Kreislauf dahin, passiert nicht viel. Das was passiert, beziehungsweise nicht passiert, ist allerdings urkomisch.

Was die beiden auch unternehmen, endet im Desaster. Ewig am Träumen, am Debattieren, am Trinken leben sie in den Tag hinein, von Debakel zu Debakel. Agnes hat irgendwann gründlich die Nase voll von Jimmy, dem Großmaul, und Teos Heldenverehrung für den Onkel, und verlässt die beiden, die daraufhin mit zwei Indianern eine aberwitzige, aber harmonische WG gründen. In diesem multikulturellen Biotop der besonderen Art blühen die Hirngespinste erst so richtig auf: Teofil und Chuck, der Navajo, brüten zwei todsicher zum Scheitern verurteilte Geschäftsideen aus. Aber bevor sie mit ihrer Kombination aus Sushi-Restaurant und Beerdigungsinstitut für Scheintote überhaupt baden gehen können, sind sie schon einem angeblichen polnischen Kreditvermittler aufgesessen und ihr Geld los. Und so könnte die Geschichte immer weiter gehen, wenn ihr Schöpfer sie nicht irgendwann einfach enden lassen würde. Einfach so, ohne Ausblick auf irgendetwas Neues, in „einem Dorf im Nordosten von Polen, wo die Hunde mit dem Hintern bellen – so gottverlassen ist die Gegend ...“

Artur Becker, 1968 in Bartoszyce, Masuren, geboren, kam als 16-Jähriger mit seinen Eltern nach Deutschland. Hier angekommen, eignete er sich nicht nur eine neue Sprache an, die er bis dahin nur vom Hören aus seiner zum Teil deutschstämmigen Familie kannte, sondern wechselte auch das Fach: Der in Polen bereits bekannte Lyriker, entschloss sich Prosa zu schreiben, und zwar auf deutsch. Nach „Der Dadajsee“, für den er 1997 den Preis für das neue Buch in Niedersachsen und Bremen bekam, ist „Onkel Jimmy, die Indianer und ich“ sein zweiter Roman. Ein schöner Roman, komisch und melancholisch, saftig, bilderreich und voller irrwitziger Einfälle. Natürlich haben sich zwangsläufig ein paar mäkelige Kritiker zu Wort gemeldet, die finden, Artur Becker hätte lieber bei der Lyrik bleiben sollen. So stört den einen, dass sich im eigentlichen Sinn nichts tut in dieser Geschichte, dass sich die Figuren nicht entwickeln, sondern im Kreis laufen, dem anderen stößt das Kauzige, das vermeintlich Folkloristische des Romans auf.

Die Leser werden das aller Wahrscheinlichkeit nach anders sehen. Dieses Buch zu lesen, macht nämlich einfach Spaß. Im Gegensatz zur sorgsam gekünstelten Prosa vieler jüngerer deutscher Autoren, schreibt Becker mit einer so spürbaren, sinnlichen Lust an der Sprache, die sich in einer großen Genauigkeit, in wundervoll treffenden, aber unvertrauten Wendungen niederschlägt. Und schließlich ist da seine umwerfende Hauptfigur, dieser unverwüstliche, liebenswerte Maulheld, dieser unerträgliche und dabei hinreißend kindliche Versager namens Jimmy Koronko. Artur Becker macht keinen Hehl daraus, dass er diesen Onkel nicht erfunden hat, sondern ihn schlicht und einfach vor dem Vergessen bewahren wollte. Das ist ihm wunderbar gelungen.

© Barbara Kunze


  

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