Zum Konflikt zwischen der EU und Russland
Artur Becker

Kann sich angesichts der Langwierigkeit der Ukrainekrise die Europäische Union (bzw. Westeuropa) überhaupt noch vergegenwärtigen, dass der Konflikt eigentlich uralt ist ‒ und zwar rein kulturgeschichtlich betrachtet? Während die EU mit ihrer konstitutionellen, dem Humanismus entspringenden Ideologie argumentiert, haben Russland und Putin als Träger eines bestimmten geistigen Erbes in den letzten 200 Jahren einen ganz anderen Weg zurückgelegt. Gerade deshalb ist die Rede vom Wiedererwachen des Kalten Kriegs kurzsichtig und sogar leichtsinnig.
Die EU ist als rein geistige Schöpfung ein Ergebnis des westeuropäischen Denkens und Auseinandersetzens mit dem menschlichen Verstand, mit  seinem abstrakten Verhältnis zur Welt und zum beobachtenden Subjekt. Kierkegaard, Kant, Rousseau, Proudhon, Feuerbach, Nietzsche, Hegel, Marx, Schopenhauer, Darwin, Bergson und so weiter: Sie alle haben ihren geistigen Beitrag zur Entstehung der EU geleistet, ohne es zu ahnen, indem sie andauernd das eine Problem behandelt haben: die Idealisierung der biologisch-ontologischen Existenz des Menschen, jeder auf seine Art und Weise, und diese Idealisierung hat einen fruchtbaren Boden für den aufstrebenden, sich mehr und mehr emanzipierenden Intellekt Westeuropas geschaffen, sodass die Frage nach der Freiheit eine absolut metaphysische Frage wurde, wie es sich Kant immer gewünscht hat. Sicher, manchen Denkern ist einiges entglitten, insbesondere dort, wo die biologische Sichtweise Überhand genommen hat, was bei Nietzsche ein wenig sichtbar ist, weil er die Befreiung des Menschen aus seinen selbst angelegten Fesseln allzu sehr an eine materielle Befreiung im erleuchteten, in der Erfüllung aller Zeiten erlösten Übermenschen koppelt; Marx ist zum Beispiel viel abstrakter und  »zugänglicher« als Nietzsche in  seiner Philosophie der totalen Befreiung, die ein dichterischer obsessiver Schrei gegen den römisch-katholischen Gott ist, der bloß besitzen und manipulieren wolle.
Das 19. Jahrhundert aber ‒ philosophisch ein sehr produktives Jahrhundert ‒ hat die religiösen Eschatologien komplett auf den Kopf gestellt, weil es endlich intellektuelle Werkzeuge der Erkenntnis besaß – wie das beispielsweise bei Hegel und Marx der Fall ist ‒, um ein neues anthropozentrisches System zu entwickeln, das den Fortschritt der Technologie, der Psychologie und des aufklärerischen Denkens endlich zufriedenstellend erfassen würde. Das 19. Jahrhundert war mit anderen Worten eine Art Kochtopf, in dem die Moderne, wie wir sie heute kennen – in unserer Zeit fast schon bei ihrem eigenen Untergang angelangt ‒, mehr und mehr an Geschmack und Form annahm. Es wäre auch falsch zu behaupten, dass Westeuropa nach der Aufklärung in die Falle des Positivismus, Szientismus usw. getappt sei, nein, im Gegenteil, das 19. Jahrhundert hat dank seiner neuen intellektuellen Instrumente der Erkenntnis auch die emotional geladene Idee der Nation und der Romantik samt ihren unglaublichsten Formen hervorgebracht und reflektiert, sodass zum Beispiel solch ein ‒ erst heute richtig verständlicher ‒ Dichter und Künstler wie William Blake die freiheitliche Emanzipation des geistigen und holistischen Menschen hatte vorantreiben können.
Und zum Schluss der Historizismus (Popper). Während der Säkularisierung des menschlichen Denkens standen alle Philosophen und Dichter vor einem großen Problem – was tun mit der Erfüllung der Zeiten und können sie sich überhaupt erfüllen? Man kann nicht sagen, dass es sich die Religionen mit ihren eschatologischen Vorstellungen einfach machen, aber nach der Tötung des christlichen Gottes und der Betretung des leeren Raumes, der nach diesem Mord entstanden war, blieben die metaphysischen Fragen Kants trotzdem bestehen: die Sehnsucht nach Unsterblichkeit, nach Gott und nach der Freiheit leuchtete weiterhin sehr stark. Was sollte man also mit der Geschichte tun? Konnte der Mensch in ihr wirklich seinen Platz finden und seine Sehnsucht nach Freiheit in ihr manifestieren? Feuerbach, Hegel, Marx – sie alle fragten sich, ob der Mensch in seinem Dasein durch sein eigenes Tun Freiheit erlangen könne, und sie mussten deshalb der Geschichte eine Rolle aufzwingen, welche ihr eigentlich gar nicht so gut zu Gesicht steht: die Materialisierung der geistigen Ideen. Dieser Versuch führte zu einer gigantischen Überfrachtung und Überladung des menschlichen Intellekts, sodass in letzter Konsequenz materialistische Denkweisen und Instrumentalisierungen verschiedener Philosophen zu Katastrophen geführt haben. Es kam zur Vulgarisierung des Marxismus durch den Leninismus, wie Tony Judt treffend sagt; es kam zum Schluss zur Entstehung furchtbarer Nationalismen, weil die biologischen Aspekte der Philosophie von Nietzsche und Marx komplett missverstanden wurden, sodass intellektuell vulgäre und im Prinzip primitive banale Ideologien an Kraft gewannen, deren Führer wie Messiasse auftraten (Stalin, Mussolini, Hitler) und in Wahrheit bloß Populisten, Rassisten und Mörder waren. 
Bei Hegel wie überhaupt bei den deutschen Philosophen des Idealismus sei aber das Problem der Freiheit nicht ausreichend gut gelöst worden, behauptet der polnische Philosoph Stanisław Brzozowski (1878 - 1911) in seiner Philosophie der polnischen Romantik von 1906: »Die deutsche Philosophie trachtet nach der Erkenntnis der Freiheit. Die Freiheit des Menschen kann insofern erkannt werden, als dass sie in ihm verwirklicht ist.« Die deutsche Sicht stellt er folgendermaßen dar: »Nicht er (der Mensch) verwirklicht sie, denn sie verwirklicht sich in ihm: Er erkennt lediglich den Prozess dieser Verwirklichung.« Brzozowski formuliert in seinem scharfen Urteil über die deutsche (westeuropäische) Erkenntnis der Freiheit etwas sehr Wichtiges: die Kritik an der Überbetonung des Trachtens des Individuums nach der Erkenntnis der verwirklichten Freiheit, während doch Ideen und Wahrheiten unabhängig von der menschlichen Erkenntnis existierten.
Diese rationale, eben idealisierte Überbetonung des Trachtens des Individuums nach der Erkenntnis der verwirklichten Freiheit und seine ethische Suche nach der richtigen Benennung der Welt  in ihrer materiellen Sichtbarkeit haben letztlich zur geistigen Entstehung der EU geführt. Der Mensch, ein freies, daher ethisch handelndes Individuum, solle seine verwirklichte Freiheit selbst in die Hand nehmen und sie verantwortungsvoll materialisieren und verwalten ‒ darin war man sich in Westeuropa nach den beiden Weltkriegen einig. Und eigentlich hat  der Marxismus – was paradox ist – im Konstrukt der EU seine unerwartete Verwirklichung gefunden: Eine sehr deformierte Verwirklichung, doch er konnte sich materialisieren. Denn die soziale Leistung der EU, mag sie auch als bürokratische Institution ein zentralistisches Monster sein, ist ungeheuerlich.
Westeuropa hat also in seinem philosophischen Denken das Innere nach außen gekehrt und deshalb auch einen enormen technologischen und gesellschaftlichen Fortschritt in Gang gebracht. Dabei entstanden leider auch riesige leere Räume des kalten und durch und durch positivistischen Verstandes, und diese Leere machte den Dichtern und Philosophen des 20. Jahrhunderts sehr zu schaffen, zum Beispiel T. S. Eliot (The Hollow Men) oder den französischen, von dem Russen Leo Schestow notabene stark beeinflussten, Existenzialisten. Die Verinnerlichung und die Nach-außen-Kehrung der Freiheit sind  mehr oder weniger das Fundament des westeuropäischen Denkens bis heute, und Hegels ontologische Dialektik des sich selbst verwirklichenden und erkennenden Daseins hat in diesem Denken nach wie vor ihren würdigen Platz.
Diese philosophischen und kulturgeschichtlichen Prozesse haben in Russland nicht stattgefunden. Die Westler Herzen, Belinski (Dostojewskis Mentor in seinen jungen Jahren) und Bakunin auf der einen Seite und die russischen Nihilisten (Netschajew, Pissarew) auf der anderen Seite – sie alle konnten  im Russland des 19. Jahrhunderts nicht die Säkularisierung der russischen Bevölkerung durchführen, weil sich die russische Gesellschaft dafür überhaupt nicht eignete, denn sie hat kein Bürgertum hervorgebracht. Aber dafür konnte im russischen Denken etwas ganz anderes entstehen, was Westeuropa während seiner langwierigen Laizisierung und konstitutionellen Materialisierung fast gänzlich eingebüßt hat: In Russland, wie der Philosoph Nikolai Alexandrowitsch Berdjajew (1874 - 1948) in seinem Buch Die Weltanschauung Dostojewskis von 1925 treffend schreibt, sei eine besondere Liebe zum Volk ‒ die Demophilie ‒ entstanden; sie beträfe auch Tolstois Denken.
Nietzsche lesen die Russen bis heute ganz anders als die Polen, die Deutschen und die Franzosen. Und Nietzsches Übermenschphilosophie konnte in Russland nur deshalb auf fruchtbaren Boden stoßen, weil dem »russischen Menschen« aus dem Volk ‒ nicht nur in der Vorstellung von Dostojewski ‒ schon seit eh und je besondere ontologische bzw. geistig-religiöse Fähigkeiten zugeschrieben wurden, vor allem im Umgang mit der Verwirklichung der Freiheit, die ein zentrales ethisches Problem der Bücher von Dostojewski ist. Berdjajew schreibt im zitierten Buch: »Der Eigenwille und die Empörung Iwan Karamasows ist der Höhepunkt der Irrfahrt der unbegnadeten menschlichen Freiheit. Hier erschließt sich mit erstaunlicher Genialität, dass die Freiheit als Eigenwille und Selbstbehauptung des Menschen zur Verneinung nicht nur Gottes, nicht nur der Welt und des Menschen, sondern auch der Freiheit selbst führen muss.«
Es ist also falsch zu denken, der sowjetische Mensch sei ein Produkt des Kommunismus gewesen. Nein, das besondere, durch und durch idiosynkratische und fast schon sadistisch-masochistische Verhältnis zwischen dem Herrscher und dem gemeinen Mann war in Russland schon immer vorhanden, was sich als ein Glücksfall für die spätere leninistische Revolution erweisen sollte  ‒ das menschliche Potenzial für solch eine Revolution lag quasi auf der Straße und musste nur aufgehoben werden. In dieser sehr speziellen, während der Revolution von 1917 auf ihrem Höhepunkt stehenden  Hassliebe, der sehr eigenen sowjetischen Demophilie also, konnte »der russische Mensch« endlich seine Flügel vollends entfalten und beweisen, dass er seine eigenen Schwäche erkannt habe und beherrschen könne (Nietzsche!). Und Dostojewski sollte wieder einmal recht behalten: Die Freiheit wurde in der Sowjetunion im Namen der Freiheit vernichtet (über das zukünftige Scheitern der sozialistischen Materialisierung des Himmels auf Erden schreibt er übrigens sehr konkret in seinem größten Roman Die Brüder Karamasow).
Westeuropa, das sich nun  an der Wende von 1989 konstitutionell und leider auch historisch (!) festgebissen hat, weil es immer progressiv denken muss, versteht kaum, dass Russlands kollektiver Geist immer noch messianische Züge trägt, zumal er weder das Scheitern des Kommunismus noch die ideologisch-messianische Liebe Dostojewskis zu einer großen russischen geistigen Christus-Monarchie, die über dem Westen und seinem Denken überlegen stünde, selbstkritisch verarbeitet hat. Fatalerweise wird Dostojewski in Westeuropa vor allem als genialer Psychologe gelesen und kaum als Religionsphilosoph.
Es wundert deshalb nicht, dass Putin, der ein Liebhaber der Bücher von Kafka ist (!), diesen messianischen Aspekt des Denkens von Dostojewski politisch instrumentalisiert und dass er auch das Werk des Religionsphilosophen Wladimir Sergejewitsch Solowjow (1853 - 1900) studiert und bewundert,  und beide ‒ Dostojoweski und Solowjow ‒ stehen zur Opposition zu Herzen, Belinski und Bakunin. Es wäre aber kulturgeschichtlich falsch, wenn man behauptete, Solowjow repräsentiere das Konservative ‒ solch eine Klassifizierung funktioniert in Russland nicht, zumindest nicht wie in Westeuropa. Der Konservatismus, zu dem sich Solschenizyn im greisen Alter bekannte, wirkte auf einen westeuropäischen Intellektuellen geradezu infantil und gleichzeitig »altbacken«.  
Westeuropäische Politiker müssten eigentlich Kurze Erzählung vom Antichrist von Solowjow lesen (1900 erschienen). Darin entwickelt der russische Visionär eine prophetische Philosophie, die manichäische Züge trägt. Es geht vor allem aber um die Apostasie, den Abfall vom Glauben, und die Parusie, die Rückkehr Jesu Christi. Besonders pikant ist, dass der Antichrist es auf Erden geschafft hat ‒ so beschreibt es die Kurze Erzählung vom Antichrist ‒, alle europäischen Völker in einer gewaltigen Unionnamens Vereinigte Staaten von Europa zu vereinen und glücklich zu machen: natürlich im Namen der Freiheit!
Der Kampf mit Putin ist gleichzeitig ein Kampf gegen eine Ideologie und damit auch gegen die »Russische Idee« (Russkaja Ideja). Das muss Westeuropa auf Grund seiner humanistisch-ethischen Progressivität selbstverständlich verneinen und leugnen, dass solch ein kulturgeschichtlicher Ideenkonflikt wegen der Ukrainekrise überhaupt entstanden sei. Und der geistige, bei Putin synkretistische Messianismus ist eben das, was ihn so unberechenbar macht und nicht seine in den Kleiderschrank gehängte Uniform eines ehemaligen KGB-Offiziers. Eine konstitutionelle Vorgehensweise, wie sie die EU seit 1989 in Osteuropa, auf dem Balkan und in Russland praktiziert, muss im Konflikt mit Putin scheitern, denn gegen einen Messias mit einem historischen Auftrag wird man mit rationalen Argumenten eines humanistischen Jongleurs, der Freiheit dialektisch und als einen Ausdruck geistiger schöpferischer Erkenntnisarbeit des Individuums begreift, nicht gewinnen.
Das ist allerdings nichts Neues. Man weiß aus der materialisierten Geschichte der Ideen, wozu Messiasse fähig sind. Aber dass Westeuropa in seinem humanistischen, schwer erkämpften Universalismus manchmal nicht nur blind, sondern moralistisch auf Außenstehende wirken mag ‒ das hört man bei uns nicht so gerne. Doch genau diese kulturgeschichtliche Schwäche Westeuropas nutzt Putin für seine Politik aus. Denn »der russische Mensch« ist ein stolzer Mensch. Übrigens: Russland hasst diesen belehrenden konstitutionellen Ton Westeuropas, weil er ihm pädagogisierend, überheblich und vor allem kleingeistig erscheint. Kant und Co., das ist für Putin lediglich intellektueller Bildungsschmuck. Kafka sehr wahrscheinlich auch. Leider.

 

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